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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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andere Ende befestigte er am Fußende des Bettes direkt am Rahmen, so dass Lore gerade noch um das Bett herumgehen und ans Fenster treten konnte. Doch die Tür war für sie unerreichbar.
    Lore schrie ihn an: »Wie soll ich jetzt das Kind versorgen? Ihr werdet mir alles bringen müssen, was ich brauche!«
    Der Mann grinste hämisch. »Der Chief hat gesagt, das kleine Miststück braucht nichts mehr! Und du bekommst erst etwas zu essen, wenn die Missgeburt da tot ist.«
    Lore schluckte und sah den Mann für einen Augenblick fassungslos an. »Was soll das heißen?«
    »Der Chief hat dir doch schon alles erklärt! Du bringst das kleine Monster um. Dann gibt der Chief dir genug Geld, damit du nach Amerika fahren kannst. Er kennt einen guten Arzt, der die entsprechenden Papiere ausstellt! Das Balg ist eben seiner Influenza erlegen, und es wird niemand vermuten, dass du nachgeholfen hast. Wenn du einen Rat von mir hören willst, dann falte die Decke ein paarmal und press sie der kleinen Ratte aufs Gesicht. Das geht ganz schnell. Wenn der Chief heute Nacht zurückkommt, sollte die Sache erledigt sein. Sonst …«
    Mit dieser unausgesprochenen Drohung schloss William die Tür hinter sich und ließ Lore und Nati in der schnell hereinbrechenden Dunkelheit allein. Lore benutzte den Nachttopf und half dann auch Nati dabei, ehe es so dunkel wurde, dass sie die Hand nicht mehr vor Augen sehen konnte. Dann frottierte sie Nati mit einem der Betttücher und packte sie so warm ein, wie es möglich war. Sie hatte jedoch nur die Sachen zur Verfügung, die sie ihr im Haus der Penns übergestreift hatte. Die Reisetasche mit der Kleidung, die Mary ihnen mitgegeben hatte, war entweder in der Kutsche zurückgeblieben, oder sie stand jetzt irgendwo unten im Haus und war für sie ebenso unerreichbar wie ihre Heimat oder die Küste Amerikas.
    Lore setzte sich mit dem Rücken gegen das Kopfende des Bettes, obwohl sie ihr linkes Bein wegen der Kette unnatürlich strecken musste, knöpfte den Mantel auf und zog Nati an sich, um sie zu wärmen. So würden sie beide diese eine Nacht überleben. An das, was danach kommen mochte, wagte sie nicht zu denken.
    Bis jetzt hatte Nati alles stumm über sich ergehen lassen, und es schien, als sei sie eingeschlafen. Deswegen erschrak Lore, als das Kind plötzlich mit klarer Stimme fragte: »Tut es weh, wenn du mich jetzt totmachst?«
    »Was meinst du?«, fragte Lore verständnislos.
    »Ich habe ganz genau zugehört! Ruppert, dieser Schweinekerl,lässt dich nur dann frei, wenn du mich abmurksen tust. Das hat er gesagt und der andere Mann auch!« Das Wort »Schweinekerl« sagte sie auf Englisch, wie sie es wohl von Mary oder deren Brüdern gehört hatte.
    »Ich habe nicht vor, dich umzubringen – und ›Schweinekerl‹ sagt man nicht. Das tun nur Gassenkinder«, antwortete Lore müde.
    »Mary hat es gebraucht, und ich weiß genau, was das heißt. Ich kann auch ein wenig Englisch. Ruppert hat gesagt, er bringt dich um, wenn du mich nicht umbringst. Du darfst aber nicht sterben, sonst bin ich daran schuld, und das will ich nicht.«
    »Unsinn! Wenn wir umkommen, ist nur dein widerlicher Vetter daran schuld. Aber wir werden nicht sterben! Mary wird uns Hilfe schicken, gleich morgen früh …« Lore merkte selbst, wie wenig überzeugend ihre Worte klangen. Irgendwo auf dem Weg hierher hatte sie die Hoffnung auf ein gutes Ende verloren.
    Nati spürte das. »Du musst mich töten, oder du wirst totgemacht. Das habe ich genau verstanden! Opa ist auch umgebracht worden, nicht wahr? Alle Menschen, die ich mag, müssen sterben, denn ich bringe Unglück. Das hat eine Zigeunerin meiner Mutter geweissagt, als ich noch gar nicht auf der Welt war! Dann sind Papa und Mama gestorben und Papas Schwester und Oma Retzmann. Alle sind bei Schiffsunglücken umgekommen, bis auf Oma Retzmann. Die ist von einem wild gewordenen Pferd totgetreten worden, als sie mich vor ihm retten wollte. Jetzt ist auch Opa Retzmann tot. Glaubst du, dass sie alle im Himmel sind?«
    »Ja, gewiss!«, antwortete Lore.
    Damit aber brachte sie Nati zum Weinen. »Dann sehe ich sie nie, nie mehr wieder!«, schluchzte die Kleine. »Ich komme nämlich in die Hölle! Das haben meine Kindermädchen und Gouvernanten alle gesagt!«
    »Aber das ist doch ganz großer Unsinn«, rief Lore. »Evangelische Kinder kommen nicht in die Hölle. Die gibt es für sie gar nicht.
    Also wirst auch du in den Himmel kommen. Irgendwann mal, wenn du Großmutter geworden bist …«
    »Nein,

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