Dhalgren
und Psychiatrie. Beides sind in sich geschlossene Systeme. Wie Religion. Alle drei versprechen dir ein Gefühl des inneren Wertes und der Bedeutung und erzählen dir dauernd, welche Leiden man durchstehen muß, um zum Ziel zu gelangen. Sobald man in irgendeinem dieser Systeme auf ein Problem stößt, heißt die Lösung immer nur, tiefer in das System hineinzudringen. Gegeneinander befinden sie sich alle in einer Art unangenehmem Waffenstillstand, obwohl sie sich aufs Blut bekämpfen müßten. Wie alle selbsternannten, abgeschlossenen Systeme. Sie versuchen höchstens, die beiden anderen zu überwinden und als Subgruppen zu bezeichnen. Du weißt, Religion und Kunst sind beides Formen von Wahnsinn, und Wahnsinn ist das Reich der Psychologie. Oder: Kunst ist Studium und Verherrlichung des Menschen und menschlicher Ideale, also ist religiöse Erfahrung lediglich vergröberte ästhetische Reaktion, und Psychologie ist lediglich ein weiteres Mittel oder Werkzeug für den Künstler, Menschen zu beobachten und die Portraits ähnlicher zu gestalten. Und religiöse Einstellung bedeutet, glaube ich, die beiden anderen Systeme nur so lange als nützlich zu betrachten, solange sie sich für ein wohlgeordnetes Leben einsetzen. Schlimmstenfalls versuchen sie alle drei, sich gegenseitig zu zerstören. Was mein Psychiater, ob bewußt oder unbewußt, ganz erfolgreich versucht hat. Die Psychologie habe ich auch kurz darauf aufgegeben. Ich wollte einfach mit keinem System mehr etwas zu tun haben.«
»Wäschst du gerne ab?«
»Ich habe es lange, lange Zeit nicht mehr gemußt.« Wieder zuckte sie mit den Schultern. »Und wenn ich es heute tun muß, finde ich es ganz entspannend.«
Er lachte: »Ich glaube, ich auch.« Dann: »Du hättest aber diese Bilder nicht zerreißen sollen. Ich meine, stell dir vor, du würdest es dir anders überlegen. Oder vielleicht war etwas Gutes daran, was du später hättest verwenden können -«
»Es wäre schlecht gewesen, wenn ich Künstler hätte bleiben wollen. Aber ich war kein Künstler. Ich wollte auch keiner sein.«
»Du hattest ein Stipendium.«
»Das hatten viele. Ihre Bilder waren zum größten Teil schrecklich. Nach den Gesetzen des Zufalls waren meine wahrscheinlich auch schrecklich. Nein, es war gut so, wenn ich überhaupt nicht mehr malen wollte.«
Er schüttelte immer noch den Kopf.
»Das regt dich richtig auf, stimmt's? Warum?«
Er holte Luft und zog seinen Arm unter ihr weg. »Es ist wie alles, was du mir - was jeder sagt . . . Als ob man mir noch hundertfünfzig andere Dinge mitteilen wollte - neben dem, was sie direkt sagen.«
»Oh, vielleicht bin ich so. Vielleicht ein bißchen.«
»Ich meine, hier stehe ich, bin halb bekloppt und versuche, Gedichte zu schreiben, und du erzählst mir, ich soll mich weder auf Kunst noch auf Psychologie verlassen.«
»Oh nein!« Sie faltete die Hände auf seiner Brust und bettete ihr Kinn darauf. »Ich habe gesagt, das ist meine Meinung. Aber ich war ja nicht bekloppt. Ich war einfach faul. Das ist ein Unterschied - hoffe ich. Und ich war nicht begabt. Tonbandcutter, Lehrer, Harmonikaspieler - aber kein Künstler.« Er faltete die Hände über ihrem Nacken und drückte ihren Kopf fest auf seine Brust. »Ich glaube, das Problem«, fuhr sie gedämpft aus seiner Achselhöhle fort, »liegt darin, daß wir ein Innen und ein Außen haben. Auf beiden Seiten haben wir Probleme, aber es ist schwierig, festzustellen, wo das eine aufhört und das andere anfängt.« Sie schwieg einen Moment und bewegte den Kopf. »Mein blaues Kleid . . .«
»Das erinnert dich an die Probleme mit Außen?«
»Das und der Besuch bei Calkins. Ich habe nichts dagegen, so zu leben - manchmal. Wenn ich die Chance hatte, habe ich es immer gut hingekriegt.«
»Wir könnten ein Haus wie Calkins haben. In dieser Stadt kann man alles haben, was man will. Vielleicht wäre es nicht so groß, aber wir könnten uns ein hübsches Haus suchen, und ich besorge alles, wie das hier jeder macht. Tak hat einen elektrischen Ofen, der Roastbeef in zehn Minuten brät. Mikrowellen. Wir können alles haben . . .«
»Das . . .«, sie schüttelte den Kopf - »ist genau dann die Situation, wenn die Innenprobleme anfangen. Oder zu Problemen werden. Manchmal denke ich, ich habe überhaupt keine Innenprobleme. Ich meine dann, ich denke mir einfach etwas aus, worum ich mir Sorgen mache. Ich habe keine Angst vor all den Dingen, vor denen die meisten Angst haben. Ich bin ziemlich herumgekommen, habe eine
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