Dhalgren
fürchte, mein Werk verlöre alle Schärfe und Ironie. Sollte ich meinen Machthunger bekämpfen, mein Sehnen nach Ruhm und Anerkennung, ich glaube, meine Werke verlören jegliche psychologische Stimmigkeit, ganz zu schweigen vom Mitleid für andere, die gleich mir versagen. Ohne diese drei Züge haben wir Werke, die nur von Wahrheit handeln, was trivial ist ohne die Typen, die es an der Welt festmachen, die der Gegenstand ist. Aber wir kommen zu den Fragen von schlechten Taten und der Fähigkeit, schlechte Taten zu begehen, Unschuld, Entscheidung und Freiheit. Ah, im Mittelalter konnte Religion oftmals Kunst freikaufen. Heute jedoch ist Kunst so ungefähr das einzige, mit dem man Religion freikaufen kann, und sämtliche Kirchenmänner werden uns das niemals vergeben.«
Newboy blickte zur Decke und schüttelte den Kopf. Gedämpfte Orgelmusik drang von der Treppe. Er blickte in seine Aktentasche.
»Ich meine, was ich wirklich wissen will« - Kids Daumen hinterließ einen Fleck auf den Fahnen: kurze Panik. »Glauben Sie« - und vier Finger wischten über das Papier -, »daß das etwas taugt?« Es wird noch mehr Abzüge geben, dachte er, um sich zu beruhigen. Bestimmt. »Ich meine, ehrlich.«
Newboy schnalzte mit der Zunge und stellte die Tasche gegen seine Knie. »Sie haben gar keine Vorstellung, was für eine absurde Frage das ist. Früher, wenn ich in so eine Situation kam, habe ich immer automatisch >nein< geantwortet. >Ich glaube, sie taugen nichts.< Heute bin ich älter und merke, daß ich die Leute nur wegen ihrer Dummheit bestraft habe, solche Fragen zu stellen, und daß ich nur im vulgärsten semantischen Sinne >ehrlich< war. Ich kann über Lyrik wirklich nicht in derart absoluten Termini wie >gut< oder >schlecht< denken, auch nicht in offeneren, die Sie wahrscheinlich gern akzeptieren würden wie >gut gemacht<, >nicht sonderlich<. Vielleicht liegt es daran, daß ich an allen ästhetischen Krankheiten dieser Zeit leide, durch die die Wertlosen gelobt und die Guten ignoriert werden. Sie haben in allen Zeitaltern gewütet. Doch Sie müssen die Möglichkeit akzeptieren, daß mir Lyrik viel zuviel bedeutet, als daß ich sie derart vulgarisieren möchte, wie Sie es von mir fordern. Das Problem ist grundsätzlich eines der Landschaft. Ich habe es, glaube ich, schon genügend klargemacht, daß mir persönlich der besondere Komplex des Zusammenwirkens zwischen Ihnen und Ihren Gedichten gefallen hat, sowohl, wie ich es wahrgenommen habe und wie ich es zu meiner Verlegenheit mißverstanden habe. Wenn Sie meine Distanz beleidigend finden, verweilen Sie bei den Komplexitäten darin. Aber lassen Sie mich ein Beispiel anfuhren: Sie kennen Wilfried Owen?«
Newboy wartete nicht auf Kids Nicken. »Er schrieb, wie viele junge Männer, seine Gedichte während des Krieges. Er schien diesen Krieg gehaßt zu haben, aber er kämpfte und wurde durch eine Maschinengewehrsalve niedergemäht, als er seine Kompanie über den Sambre-Kanal bringen wollte. Er war da jünger als Sie. Allgemein betrachtet man ihn als den bedeutendsten englischsprachigen Verfasser von Kriegsgedichten. Aber wie kann man ihn mit Auden vergleichen oder O'Hara, Coleridge oder Campion, Riding oder Roethke, Rod oder Edward Taylor, Spicer, Ashbury, Donne, Waldmen, Byron oder Berrigan oder Michael Dennis Browne? Da Krieg - die Erfahrung oder die Vorstellung - ein lebendiges Bild bleibt, so wird Owen ein lebendiger Dichter bleiben. Wenn Krieg sowohl abgeschafft als auch vergessen würde, würde Owen zur unbedeutenden Gestalt, der nur noch vom philologischen Standpunkt aus als Stufe in der Sprachentwicklung interessierte, als Einfluß auf entsprechende Bilder. Und Ihre Gedichte drehen sich um diese Stadt, wie die von Cafaya sich um das Alexandria vor dem Zweiten Weltkrieg drehen oder wie die Olsons im Meerlicht des Gloucesters der Jahrhundertmitte tanzen oder Villons sich um das mittelalterliche Paris drehen. Wenn Sie mich nach dem Wert dieser Gedichte fragen, fragen Sie mich, welchen Stellenwert das Bild dieser Stadt in den Köpfen derjenigen einnimmt, die noch niemals hiergewesen sind. Wie kann ich mir das auch nur vorstellen? Es gibt Zeiten, wenn ich durch diesen endlosen Nebel wandere, wenn sich mir diese Straßen als alle Hauptstädte dieser Welt darstellen. Und dann wieder gestehe ich, daß die ganze Stadt ein nutzloser häßlicher Fehler ist, mit keiner Beziehung zu dem, was ich als Zivilisation kenne, besser ausradiert als verlassen. Ich kann es nicht
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