Dhalgren
beurteilen, denn ich bin noch hier. Ehrlich gesagt, werde ich es auch nicht können, wenn ich hier fort bin, wegen der Befangenheit, daß ich schon hiergewesen bin.«
Kid, bei der Korrektur der zweiten Hälfte des zweiten Gedichts, blickte auf das Schweigen hin auf.
»Der Wert Ihrer Arbeit?« (Kid senkte den Blick und korrigierte weiter.) »Menschen, die nicht schöpferisch tätig sind, sind immer sicher, daß der Schöpfer dies auf irgendeiner unbewußten Ebene weiß. Aber die Tribüne der Nobelpreisträger, an die ich dreimal so nahe herangekommen bin, ist jetzt mit mediokren Schreiberlingen bevölkert, die weder elegant sind noch Tiefe haben, weder lesbar noch relevant sind: Zu Lebzeiten geehrt starben sie, dessen bin ich sicher, in der Überzeugung, daß sie ihre Sprache substantiell weitergebracht haben. Ihre Miss Dickinson starb genauso überzeugt, daß niemand jemals eine Zeile von ihr lesen würde, und sie ist eine der hervorragendsten Dichterinnen, die ihr Land hervorgebracht hat. Ein Künstler kann einfach keinem öffentlichen Zeichen des Lobes trauen. Privaten? Das ist noch irreführender.«
Kid ging über zur nächsten Fahne. »Sie reden mit sich selber.« Mit gesenktem Blick fragte er sich, welchen Ausdruck Newboys Gesicht jetzt wohl annehmen würde.
»Aller Wahrscheinlichkeit nach«, sagte Newboy nach einer längeren Pause.
»Haben Sie wirklich solche Angst, daß Ihr eigenes Zeug nichts taugt?«
Newboy schwieg.
In der Pause überlegte Kid, ob er hochblicken sollte, unterließ es aber.
»Wenn ich nicht gerade bei der Arbeit bin, habe ich keine Wahl. Ich muß es als wertlos betrachten. Aber wenn ich intensiv dabei bin, schreibe, revidiere, feile, poliere, muß ich es durch den gleichen Prozeß als das Wichtigste in der Welt betrachten. Und jede andere Haltung ist mir sehr suspekt.«
Jetzt blickte Kid auf. Der Ausdruck, der aus Newboys Gesicht verschwand, war ernsthaft. Aber Spuren von Lachen nahmen seine Stelle ein. »Ah, als ich ein junger Mann war, so jung, wie ich Sie einschätze, erinnere ich mich, daß ich mit unglaublichem Eifer an einer Übersetzung von Le Bateau Ivre gearbeitet habe. Und hier bin ich nun an der respektablen, wenn auch etwas geschwätzigen Schwelle zum alten Mann, und gestern abend habe ich, nachdem alle anderen hinaufgegangen waren, beim Licht einer Sturmlaterne - in diesem Flügel geht jetzt die Elektrizität nicht mehr - an Le Cimetiere matin gearbeitet. Der Impuls dazu war durchaus der gleiche.« Er schüttelte immer noch lachend den Kopf. »Haben Sie schon Fehler gefunden?«
»Hm«, sagte Kid. »Auf den ersten drei Seiten nicht.«
»Ich habe den gestrigen Tag und heute morgen damit verbracht, anhand Ihrer Reinschriften zu vergleichen. Hier und da habe ich ein Fragezeichen angebracht. Sie werden beim Durchsehen darauf stoßen.«
»Wo?«
»Das erste ist ziemlich am Anfang.« Newboy stellte seine Tasse ab und beugte sich über Kids Schulter. »Nächstes Blatt. Hier. Es ist das Gedicht, von dem Sie eine Kopie auf einem losen blauen Blatt haben. Es sieht aus, als hätte es jemand anders für Sie abgeschrieben. Wollten Sie vielleicht in der dritten Zeile ein Komma setzen? Ich habe es mit der Version im Notizbuch verglichen. Bei beiden fehlt es. Außer der Satzstellung würde ich -«
»Die Version im Notizbuch hat doch ein Komma, oder?« Kid runzelte die Stirn und blätterte durch die handgeschriebenen Seiten. Seine Augen stolperten über Wörter, versuchten, sich nicht ablenken zu lassen, bis er die Seite fand. »Da ist keins.« Er blickte auf. »Ich war sicher, daß ich eins gesetzt hatte.«
»Dann hatte ich also recht. Hier, nehmen Sie meinen Stift. Kreuzen Sie einfach das Fragezeichen am Rand aus. Ich hatte das Gefühl, Sie würden - was ist los?«
»Ich dachte, ich hätte ein Komma gemacht. Habe ich aber nicht.«
»Oh, das passiert mir dauernd, daß ich Worte vergesse, wobei ich sicher bin, sie im ersten Entwurf niedergeschrieben zu haben.«
»Sie . . .?«
Mr. Newboy begann eine Frage, war sich aber nicht sicher und blickte wieder auf die Zeilen.
». . . haben es einfach gelesen und wußten, daß ich dort ein Komma haben wollte?«
Newboy begann mehrere Dinge zu sagen, hielt aber (nach einem kurzen Nicken) inne, bevor er sprach, als sei er neugierig, welchen Eindruck Schweigen haben könnte.
Zwei Gefühle gruben sich in Kids Schädel: Die Angst hinterfragte er: Ist dies ein Trick des autonomen Nervensystems, wodurch mein Rücken unten feucht zu werden
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