Dhalgren
begann ich, die Seiten durchzublättern.
Was komisch war: Nach fünf Minuten hatte ich immer noch kein ganzes Gedicht oder einen vollständigen Abschnitt aus den Essays oder Geschichten gelesen. Meine Augen konnten sich nur vor oder hinter einer Seite zentrieren. Der Teil des Gehirns direkt hinter dem Auge, der die Preziosen von Worten in Bilder, Ideen oder Informationen transformiert, funktionierte nicht. (Ich fragte mich sogar eine Zeitlang, wieviel das war, denn ich hörte ihn reden!) Die Bücher hatten eigenständige Geister hervorgebracht, und ich konnte die Worte nicht wegen der Nachbilder lesen. Ich nahm einen Band nach dem anderen in die Hand, blätterte es durch, schloß es auf meiner Handfläche, legte es ab, tastete wieder meine leere Hand ab, um das Geistergewicht zu spüren. Mein Magen begann zu schmerzen, weil ich mich so uneingegrenzt konzentrierte. Ich stellte sie alle zurück - zuerst nach der Größe geordnet, dann zog ich sie wieder heraus und ordnete sie nach den Daten auf der Impressumseite - und ging eine Weile umher (erinnere dich an einen vierten Tag unter Speed?), ging zum Tisch zurück, nahm die Bücher wieder heraus, ging - und merkte genau dann, daß ich wegwanderte, als ich mich zum Gehen umwandte.
Was ist mit diesen Objekten, daß es so stark vibriert, daß die Objekte selber verschwinden? Ein Feld, geprägt durch den Namen eines Mannes, ohne daß ich jemals ein komplettes Werk von ihm gelesen hätte, doch von dem die Maschinerie meines Bewußtseins an irgendeinem Punkt befunden hatte, daß er ein Künstler war. Wie komisch traurig, erschöpfend. Warum bin ich Opfer dieser Magie? Doch trotz allem, was ich an mir kenne, frage ich mich wie rasend, wer wohl Messing Orchideen einmal abwägend in der Hand halten wird.
»Kid?« Madame Browns Körper und Gesicht wurden durch die Tür in Scheiben geschnitten. »Sie sind da. Gut.«
»Hallo.« Ich schloß The Charterhouse of Bailarat. »Wollen Sie jetzt hereinkommen?«
Sie öffnete die Tür ganz; ich sprang vom Tisch herab.
»Yeah, lassen Sie uns anfangen. Ich hoffe, Sie haben nicht warten müssen?«
»Ist okay.« Ich ging in das Zimmer.
Als ich hineinkam zu den mattgrünen Wänden, dunkles Holz bis in Hüfthöhe, einer Couch mit grüner Korddecke, drei großen Ledersesseln, einem hohen Bücherregal, dunkelgrünen Vorhängen, mußte ich meine räumliche Vorstellung vom Haus revidieren: Es war der größte Raum in dieser Etage, und ich war noch nie darin gewesen.
An der Wand hing ein ausschwenkbares Gestell wie in Posterläden. Ich ging hinüber, öffnete es, sah Madame Brown an -
»Machen Sie weiter.«
- und drehte das erste Blatt um, erwartete George.
Die zerklüftete Erde hing über der gefurchten Mondoberfläche. Auf dem nächsten blickte ein untersetzter Astronaut aus seinem halbversilberten Visier. Alle Bilder - ich sah mir ein halbes Dutzend an - waren vom Mond oder vom Mars oder von den vertrauten Gesichtern der Astronauten, um den Hals die Ringe von den Helmen - zwei vom jüngeren Kamp mit kürzerem Haarschnitt - oder ihren polierten Meßinstrumenten (der folienumwickelte Gerätefuß, unter den Kamps Mondmaus geflüchtet war), Plastikfahnen oder helle Zirruswolken durch das Rückstoßlicht von hinten beleuchtet, als sich die Rakete aus den Halterungen löste.
Wollen wir Kamp auf unsere Sitzung herabgrinsen lassen? Nein. Ich entschied mich für eine kreidige Landschaft, im Hintergrund eine Erde mit Wolken wie ein negativer Fingerabdruck oder ein Topf mit säuerlicher Milch kurz vor dem Aufkochen, und ging zu einem Stuhl.
»Bequem so?« Madame Brown schloß die Tür. »Sie können sich auch auf die Couch legen, wenn Sie dann leichter reden können.
»Nein, ich möchte Sie lieber sehen.«
Sie lächelte. »Gut. Und ich möchte Sie auch lieber sehen.« Sie setzte sich in einen der anderen beiden Stühle, der im stumpfen Winkel zu meinem stand, eine Hand auf der Lehne, die andere im Schoß. »Wie fühlen Sie sich, wenn Sie mit mir reden?«
»Ein bißchen nervös«, antwortete ich. »Ich weiß nicht warum: Ich hab' schon mit vielen Shrinks geredet. Ich habe allerdings gedacht, hier ist es okay, weil es keine Heilanstalten gibt, in die Sie mich stecken können.«
»Haben Sie das Gefühl, daß die anderen Ärzte, mit denen Sie geredet haben - vielleicht die, bei denen Sie waren, bevor Sie ins Krankenhaus gingen -, Sie weggesteckt haben?« Sie fragte das ziemlich offen, nicht mit sarkastischen Anführungszeichen vor und nach
Weitere Kostenlose Bücher