Dhalgren
dem Artikel. Er war unverständlich! Ich las die holprigste Schilderung der Überfahrt, über uninteressante Landschaft und sinnlose Treffen mit vagen Personen. Die Urteile über das Land waren unsinnig. Die Gedanken über die Bevölkerung wären, hätte er sie mit mehr Verve vertreten, entsetzlich in ihren Vorurteilen gewesen. Glücklicherweise war mir der Text zu schwer, und ich schaffte nur zehn oder sechzehn Seiten. Ich war immer stolz auf meine Fähigkeit gewesen, alles lesen zu können. Ich dachte, ich müsse das, da ich selber so wenig schrieb. Aber diesen Artikel habe ich weggelegt! Wir alle wissen, daß diese eigenartige Maschinerie, die jemandem einen Ruf voranträgt, fehlerhaft ist. Aber wie stark vertrauen wir ihr! Ich erkannte diese Unzuverlässigkeit und nahm meine Tasche voll mit Weihnachtsgeschenken hinaus in Londons Winterschmutz. Der Redakteur hatte mich in seinem letzten Brief spaßeshalber zum Weihnachtsdinner eingeladen, und ich hatte genauso spaßig zugesagt. Dann war ich zweitausend Meilen auf einen Urlaub nach London gefahren. Solche Unternehmen, so reizvoll sie bei der Planung sind und so nett zum Wiedererzählen, werfen bis heute ihre Schatten. Ich kam drei Tage früher an und hielt es für das beste, die Geschenke frühzeitig für den Weihnachtsmorgen abzuliefern und so meinem Gastgeber Zeit zu lassen, die Größe der Weihnachtsgans noch einmal zu bedenken und um seinem Weihnachtspudding die eine oder andere Zutat beizusteuern. Ich klingelte an einer Tür, die in einen englisch-grünen Flur führte. Mir öffnete ein sehr großer, strahlender, junger Mann, der dem Akzent nach Amerikaner sein mußte. Warten Sie mal, vielleicht kann ich mich genau an die Unterhaltung erinnern. Es trägt zur Pointe bei.
Ich fragte, ob meine Freunde zu Hause seien.
Er sagte nein, sie seien fort, er sei der Babysitter der beiden kleinen Töchter.
Ich sagte, ich wolle nur ein paar Geschenke abliefern, und er solle bitte ausrichten, ich käme am Weihnachtstag zum Essen.
Oh, sagte er, dann sind Sie . . . nun, ich werde Sie heute abend sehen!
Ich lachte überrascht. Gut, sagte ich, ich freue mich darauf. Wir gaben uns die Hände, und ich ging. Er schien sehr liebenswert, und ich bekam langsam Interesse an dem Abend. Erste Verhaltensregel in der literarischen Gemeinde: Verachte niemals privat einen Kollegen für das, was er zu Papier gebracht hat. Die Gnade, die Sie dem privaten Barbaren trotz dessen literarischer Klasse erweisen, ist eine Sache Ihres persönlichen Temperaments. Die Pointe ist jedenfalls, daß wir kaum mehr als fünfundsiebzig oder hundert Worte wechselten. Ich hörte eigentlich nur seine Stimme. Jedenfalls, zurück in Hampstead, wo man inzwischen vom Sherry zum Rotwein übergegangen war, nahm ich durch Zufall noch einmal seinen Artikel zur Hand. Nun, ich beschloß, ihm noch eine Chance einzuräumen. Also begann ich, noch einmal zu lesen.« Newboy starrte über den Rand und setzte das Glas ab, ohne hinzusehen. Sein Mund wurde zu einem dünnen Spalt. »Es war klar, er war lebhaft, es war sowohl ernsthaft als auch ironisch. Was ich für banal gehalten hatte, war feinste Satire. Der Text drückte ein konzentriertes Bild der Bedingungen aus, unter denen das Land litt, ebenso wie die absurde Position des Autors sowohl als Amerikaner als auch als Tourist. Er bewegte sich auf diesem so schmalen Grat zwischen Stil und Pathos. Und ich hatte nur seine Stimme gehört! Sie war bescheiden, etwas feminin, mit einem Tonfall und Satzpausen, die in komischem Gegensatz stand zu den Vorstellungen von frischem Wasser, Mammutbäumen und den Rockies, die hindurchklangen. Aber was passiert war, war schlicht, daß ich jetzt diese Stimme hören konnte, wie sie den Text vorstellte, mit anderer Betonung hier oder da, die für mich nun entschlüsselte, was zuvor so unverständlich und unelegant wie ein Telefonbuch geschienen hatte. Seitdem habe ich alles von diesem Schriftsteller mit Entzücken verschlungen.« Newboy nahm noch einen Schluck. »Ah, aber da gibt es noch eine Nachbemerkung. Ihre Kritiker hier in den Staaten haben mir unendliche Freundlichkeit erwiesen, indem sie nur das aus meinem Werk rezipiert haben, was ich für ihre Diskussion interessant finde, und jene unzähligen Bände haarspalterischer Interpretation ausgelassen, die mir eine Universitätsstelle verschaffen sollten, wenn der diplomatische Dienst meine Neigung zum Klatschen erschöpft haben sollte. Bei meinem letzten Besuch Ihres Landes empfing mich
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