DHAMPIR - Blutsverrat
letzte Mal sein. Reiß dich zusammen und sei still! Wir können erst dann eingreifen, wenn die Flüchtlinge über der Grenze sind.«
»Eingreifen?«, wiederholte Magiere laut. »Wobei?«
Der Oberst achtete nicht auf sie, aber der Hauptmann drehte den Kopf. In seinem von der Kälte geröteten Gesicht war deutlich zu sehen, wie schwer es ihm fiel, dem Befehl seines Vorgesetzten zu gehorchen. Leesil sah, wie es an seinem linken Auge zuckte, bevor er sich abwandte und den Soldaten am Tor Anweisungen zurief.
Weitere Gestalten kamen aus dem fernen Wald und liefen durchs hohe Gras. Während seiner jungen Jahre in den Kriegsländern hatte Leesil immer wieder erlebt, wie Menschen nach einem besseren Leben suchten. Mehr als einmal war er gezwungen gewesen, es ihnen zu nehmen. Darmouth hatte ihn und seine Eltern fest im Griff gehabt. Damals war er gezwungen gewesen, für den Kriegsherrn Dinge zu tun, die ihm noch nach vielen Jahren Albträume bescherten.
»Was geht hier vor, Leesil?«, fragte Magiere.
Der erste Reitersoldat kam aus dem Wald und verfolgte die Flüchtlinge.
»Wir sehen den Beginn eines Gemetzels«, antwortete Leesil leise.
Chap beobachtete, wie die Jagd auf dem weiten Grasland begann. Zwei erwachsene Männer befanden sich unter den Flüchtlingen und bildeten die Nachhut. Die anderen waren Frauen, Kinder und die beiden Jugendlichen, die so schnell liefen, dass sie sich jetzt an der Spitze befanden. Inzwischen waren fünf Reiter aus dem Wald gekommen und trieben ihre Pferde an. Sie trugen Leder und Kettenhemden und hatten Schilde an den Seiten ihrer Rösser. Streitkolben mit langen Griffen und eisernen Köpfen waren ihre Waffen.
Ein Windstoß zischte durchs offene Stadttor und traf Chap. Er blinzelte und empfing eine Botschaft. Sein Vol k – die Fee n – sprach durch die kalte Luft zu ihm.
Misch dich nicht ein! Diese Ereignisse haben nichts mit deiner Bestimmung zu tun.
Da bin ich anderer Meinung. Sollen wir die eine vor dem Feind bewahre n … – Chap sah kurz Magiere an und richtete den Blick dann auf Leesil – … und den anderen an seine Vergangenheit verlieren?
Leesil stand reglos da und starrte durchs Tor. Der Wind zerrte an seiner Kapuze; einige Strähnen seines weißblonden Haars lugten darunter hervor.
Wenn es nötig ist, so muss es geschehen. Das Kind der Toten steht an erster Stelle.
Draußen vor der Stadt holte der erste Reiter mit seinem Streitkolben aus. Er traf den Rücken eines fliehenden Mannes, der daraufhin fiel und im Gras verschwand.
Chap knurrte, aber das Geräusch verlor sich in den Rufen der Menschen um ihn herum. Aufgeregt drehte er sich im Kreis, blickte dann zu Leesils kalter Miene auf und bemerkte ein Erinnerungsbild, das in ihm hochstieg. Er schaute in Leesils Vergangenheit, sah sie durch Leesils Augen und nahm das Gefühl seiner Schande wahr.
Bei Anbruch der Dunkelheit trafen sich Händler und Bürger im Laden einer Gerberei. Immer wieder fluchten sie und beklagten ihr Leid, und es dauerte nicht lange, bis sich die Gespräche darum drehten, wie man der Tyrannei ihres Herrschers ein Ende setzen konnte. Leesil wandte den Blick von ihren entrüsteten Gesichtern ab und verschloss die Ohren vor ihrem Zorn. Eine ganze Jahreszeit hatte er gebraucht, um das Vertrauen eines Kontaktmanns zu gewinnen und zu diesem Treffen eingeladen zu werden. Mit einer geschlossenen Laterne in der Hand näherte er sich der Hintertür und behielt die Versammelten im Auge, um festzustellen, ob ihn jemand beobachtete. Als er sicher sein konnte, dass niemand auf ihn achtete, öffnete er die Hintertür und schlüpfte hinaus auf die dunkle Straße.
Er öffnete die Klappe der Laterne, gab ihr Licht frei und setzte sie auf den Boden, eilte dann in die nächste Seitenstraße. Wenige Momente später kamen pochende Hufe und Schritte näher. Die Leute in der Gerberei hörten die Soldaten erst, als es schon zu spät war.
Die Tür wurde aufgebrochen, und Leesil duckte sich hinter einen Stall, drückte sich dort an die Holzwand. Stahl klirrte, Bürger schrien. Leesil schaute erst zurück, als die Nacht wieder still wurde.
Ein Grollen kam aus Chaps Kehle, als Leesils Erinnerungsbilder verblassten und nur Elend zurückließen. Leesil trug so viel in sich, und Chap befürchtete, dass der Halbelf zerbrach, wenn er in seine Vergangenheit zurückkehrte. Chap folgte seinem Blick durchs Tor, zu den beiden flüchtenden Halbwüchsigen, fühlte dabei den Schatten von Leesils Schuld. Er legte die Ohren an und wandte
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