DHAMPIR - Dunkelland
vorbeigekommen waren, kaum mehr als eine Ansammlung von Hütten. Er entsann sich auch Chanes Unruhe. War er so dumm gewesen, sich auf die Suche nach Nahrung zu begeben?
Welstiel kehrte ins Innere des alten Tempels zurück, sammelte seine Sachen, streifte den Mantel über und wollte sich auf die Suche nach Chane machen. Doch dann zögerte er. Niemand befand sich in der Nähe, und solche Momente waren sehr selten, wenn man in der Gesellschaft eines Begleiters reiste.
Ihm war zunächst nicht klar gewesen, wie schwer es sein würde, Magiere zu folge n – sie konnte sich tagsüber frei bewegen, während er einen sicheren Platz finden musste. Nach den Etappen der letzten Nächte glaubte er, ihr Ziel zu kennen.
Zuerst war sie nach Südosten gereist, was ihn verwirrt hatte. Er war von der Annahme ausgegangen, dass sie den Wudrask verlassen und nach Norden ziehen wollte, nach Strawinien. Nach dem Ende ihrer Fahrt mit dem Schleppkahn hatte er fast ihre Spur verloren und Chane mit einer Aufgabe losgeschickt, um allein zu sein und nach Magiere Ausschau halten zu können.
Er musste diese Gelegenheit nutzen.
Welstiel kniete im Innern des kleinen Tempels, holte einen Messingteller aus seinem Gepäck und legte ihn auf den laubbedeckten Boden mit der gewölbten Seite nach oben. Er murmelte kehlige Worte, zog seinen Dolch und schnitt behutsam in den Rest des kleinen Fingers an der linken Hand. Blut quoll aus der Wunde, und er beobachtete, wie ein dunkler Tropfen in die kleine Mulde in der Tellermitte fiel, dann noch einer und ein dritter. Der Knochenstumpf im Rest des kleinen Fingers fühlte sich warm an. Welstiel konzentrierte sich kurz, und die Wunde schloss sich.
Aus den drei Tropfen in der Mitte des Messingtellers war ein großer geworden, und er bewegte sich, glitt von der Mitte fort und kroch nach Ostsüdost.
Welstiel säuberte Teller und Dolch, verstaute beides und trat nach draußen, um mit der Suche nach Chane zu beginnen.
Es gab keinen Zweifel mehr: Magiere war nach Chemestúk unterwegs.
Wynn beobachtete, wie Magiere und Leesil auf der anderen Seite des Feuers unter der Decke lagen und miteinander flüsterten. So dumm es auch sein mochte: Der vertraute Anblick sorgte dafür, dass sie sich mit jedem verstreichenden Tag einsamer fühlte. Sie hatten zueinander gefunden, und Wynn kam sich ausgeschlossen vor.
Bei dieser Reise war nichts so, wie sie es erwartet hatte.
Wynn hatte nie daran gedacht, wie das Leben ohne die ständige Präsenz ihrer Mentoren und der anderen Weisen sein mochte. Als Waisenkind war sie in Malourné, auf der anderen Seite des Ozeans, in die Gilde der Weisheit aufgenommen worden. Zu Beginn dieser Reise hatte sie Magieres Verdrossenheit und Leesils Humor als angenehme Abwechslung von all den ihr bekannten Dingen empfunden. Aber nach so vielen Reisetagen vermisste sie Domin Tilswith und die Bequemlichkeit der Kaserne in Bela. Wenigstens blieb Chap bei ihr. Sie strich dem Hund durch das dicke Fell am Hals und hörte sein zufriedenes Brummen.
Sie hatte sich vorgestellt, als Schriftgelehrte und Dolmetscherin für Magiere und Leesil nützlich sein zu können, vergleichbar mit den reisenden Weisen, die in ihrer Heimat einem adligen Haus und Lehen zugewiesen waren. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie die Besonderheiten fremder Länder für das Archiv der Weisen notierte und das Wissen mehrte, das die Gilde für die Zivilisation hütete. Aber Magiere und Leesil beherrschten die Sprache von Belaski und hatten ihre Dienste nicht benötigt, und jetzt befanden sie sich in Dröwinka. Nur Magiere sprach die Sprache dieses Landes fließend, und Leesil kannte sich gut genug damit aus, um zurechtzukommen.
Wynn hingegen, die sieben Sprachen beherrschte, war nicht mit dem Dröwinkanischen vertraut. Noch nicht.
Leesil versuchte sie zu unterrichten, aber sie geriet jedes Mal in große Verlegenheit, wenn sie ein Dorf erreichten. Schlimmer noch, Magiere trieb sie ständig an und legte ein geradezu erbarmungsloses Tempo vor. Wynn war kaum Zeit genug geblieben, interessante Dinge aufzuschreibe n – soweit es in diesem Land überhaupt Interessantes gab. Es war immerzu kalt und nass, und inzwischen hatte sie Kekse zum Frühstück gründlich satt. Sie sehnte sich nach intelligenten Gesprächen und einem Teller warmer Linsensuppe mit Tomaten und Rosmarin. Während sie Magiere und Leesil beobachtete, fragte sie sich, wie es sein mochte, mit einem Mann unter einer Decke zu liegen, von fernen Ländern und ihrer Geschichte
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