Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)
die ersten Edlen Toten überhaupt. Sie hatten ihrem Hkàbêv gedient, ihrem »Geliebten«, ein anderes Wort für das unbekannte Wesen oder eine Kraft im Krieg der Vergessenen Zeit. Wynn kannte andere Namen in verschiedenen sumanischen Dialekten für diesen vergessenen Feind, zum Beispiel in’Sa’umar oder Il’Samar …
Die Nachtstimme.
Außerdem hatte sie die Namen von mindestens fünf Kindern des Geliebten entdeckt. Zu ihnen gehörten Li’kän und ihre damaligen Gefährten Häs’saun und Volyno. Li’kän hatte nach all den Jahrhunderten in der Isolation ihres eisigen Schlosses noch immer existiert, und Wynn hoffte, dass die anderen Untoten von dieser Welt verschwunden waren. Aber es gab noch weitere, darunter zwei namens Vespana und Ga’hetman.
Worum es bei dem »zu verstecken« ging, war bisher unklar, doch eines stand fest: Gegen Ende des Krieges hatten sich die Kinder getrennt. Wohin waren sie gegangen? Wo befanden sie sich, wenn sie noch immer existierten? Was hatte unter dem verlorenen Bäalâle Seatt »das Eigene verzehrt«? Und was in der derzeitigen Situation eine große, vielleicht die wichtigste Rolle spielte: Warum hatte der Wrait für die Übersetzungsfolianten gemordet?
Der Wrait hatte Wynn mehrmals angegriffen, seit Chane die Schriftrolle zu ihr gebracht hatte. Wusste er, was sie enthielt?
Vielleicht hatte sie bei ihrem kurzen Blick auf den Inhalt der Schriftrolle etwas übersehen. Aber um das Gedicht erneut zu betrachten, hätte sie ihre mantische Sicht beschwören müssen. Und an diesem Abend konnte sie nicht auf die Hilfe von Domin il’Sänke, Chap oder Schatten zurückgreifen, falls irgendetwas schiefgehen sollte.
Wynn saß da, starrte auf das geschwärzte Leder und fühlte sich zwischen Vernunft und einem fast überwältigenden Drang hin und her gerissen. Wie üblich gab die Neugier den Ausschlag. Sie schob die Schriftrolle beiseite, zeichnete mit dem rechten Zeigefinger einen imaginären Kreis auf den Boden und …
Die Tür sprang auf.
Chane eilte hinter Schatten herein. Beim Anblick von Wynns Zeigefinger über dem Boden und der Schriftrolle blieben sie beide stehen.
»Was machst du da?«, fragte Chane. »Wolltest du ganz allein deine mantische Sicht beschwören?«
Der Geruch von Meerwasser begleitete Chane und Schatten. Chanes Kleidung schien noch immer feucht zu sein, aber an einigen Stellen war sie so weit getrocknet, dass sich weiße Salzflecken zeigten. Sein Haar war ebenso zerzaust wie Schattens Fell.
Die Hündin kam näher, beschnüffelte die Schriftrolle und rümpfte die Schnauze. Der Blick ihrer glitzernden Augen richtete sich auf Wynn, und der Argwohn in ihnen erinnerte die junge Weise sehr an Chap.
Hoffnungsvoll sah sie zu Chane hoch.
»Habt ihr den Tunnelzugang gefunden?«, fragte sie.
Chane verzog das Gesicht und brachte damit sein Missfallen über das zum Ausdruck, wobei er Wynn ertappt hatte.
»Vielleicht«, antwortete er und sah zu Schatten.
Wynn erstarrte innerlich. »Was bedeutet das?«
»Was machst du hier?«, fragte Chane. »Ich dachte, ich würde dich beim Markt oder in der Nähe des Gasthauses antreffen, in dem die Herzogin wohnt.«
Wynn rollte das geschwärzte Leder zusammen und schob es in den Zylinder. »Reine hat sich bis morgen Abend zurückgezogen. Ihre Begleiter scheinen auf etwas zu warten. Sie wollen in die Unterwelt zurück und dort einige Tage verbringen. Ich habe keine Ahnung, was am morgigen Abend so besonders sein soll.«
»Morgen Nacht ist Neumond«, sagte Chane. Er kam einer Frage zuvor und schüttelte den Kopf. »Es ist mir aufgefallen, während wir an der Küste unterwegs waren.«
Wynn dachte darüber nach, obwohl es ihr bedeutungslos erschien. Steingänger bekamen Himmel und Mond kaum zu sehen.
»Schon gut. Habt ihr nun einen Tunnel gefunden oder nicht?«
»Frag sie.« Chane deutete auf Schatten.
Wynn blinzelte verwundert. Wie sollte Schatten darüber Bescheid wissen und Chane nicht? Er sah ihre Verwirrung, und Chane schilderte die Ereignisse, bis zu der Stelle, als Schatten ihn zum Aufzug geführt hatte.
»Sie wollte ganz offensichtlich zu dir zurückkehren«, fügte er hinzu.
Schatten näherte sich, und Wynn steckte die Hände nach ihrer Schnauze aus. Als es zum Kontakt kam, konzentrierte sich Wynn auf ein Erinnerungsbild, das Schatten ihr gezeigt hatte: das Gitter hinter der Wasserfläche in dem Raum, den die Herzogin besucht hatte.
Schatten antwortete, indem sie neue Bilder übertrug, begleitet von Gerüchen und
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