Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)
umzudrehen.
Erz-Locken blieb stehen.
»Nein«, antwortete er. »Eure Präsenz an jenem Ort war ein bislang einmaliger Fall.«
Das brachte eine gewisse Erleichterung. Die Herzogin war zwar maßgeblich an der Geheimniskrämerei in Hinsicht auf die Texte beteiligt, aber vermutlich wusste sie nicht, mit wem Erz-Locken in Verbindung stand.
»Was wisst Ihr über Bäalâle Seatt?«, fragte sie.
Es folgte eine lange Pause.
»Nur die Lüge, wonach Thallûhearag … Tiefe Wurzel … der große Fluch jenes Seatt war.«
Wynn sah über die Schulter und bedauerte, dass Chane nicht anwesend war. Sie hätte gern eine Bestätigung dafür gehabt, dass Erz-Locken log.
»Ich habe einmal gehört, dass dort alle umgekommen sind«, sagte sie vorsichtig und beobachtete, wie seine Augen größer wurden. »Der Seatt wurde im Krieg belagert. Angeblich entkamen nicht einmal die feindlichen Streitkräfte.«
Erz-Lockens Anspannung wuchs. An der linken Schläfe pochte eine Ader.
»Ihr habt davon gehört?«, flüsterte er fassungslos. »Wo könntet Ihr von einem solchen Ort gehört haben?«
Wynn ging nicht auf die Frage ein, konzentrierte sich wieder auf Volynos Text und las laut.
»… auf Erde …«, begann sie und versuchte, die Lücken zu füllen. »Unter dem Sitz eines Herren Gesang … bestimmt zu obsiegen, aber es endete alles … halb verschlungen darunter.«
Der letzte Teil ergab keinen Sinn, aber sie las weiter, bis zu einer Stelle voller Bedeutung.
»… selbst die Wéyelokangas … wandern in Erde … verweigerten sich dem Willen des Geliebten.«
Erz-Locken sah sie verwirrt an, und Wynn erklärte:
»So nannten die Kinder den Alten Feind: Geliebter. Asche-Splitter nannte ihn Kêravägh.«
Falten bildeten sich in Erz-Lockens Stirn. »Was bedeutet Wéy… lok …?«, begann er und schaffte es nicht, das Wort zu wiederholen.
»Das ist Numanisch, meine Muttersprache«, sagte Wynn. »Aber der Begriff ist so alt, dass nur wenige Leute etwas damit anzufangen wüssten. Er bedeutet so viel wie ›Kriegwechsler‹.«
Sie sah noch immer kein Verstehen in seinem Gesicht.
»Verräter!«, fügte sie scharf hinzu. »Eidbrecher, die während eines Kriegs die Seite wechseln und damit dem Feind Vorteile verschaffen. Und sie wanderten in Erde … in Stein!«
»Lügen!«, brachte Erz-Locken hervor. Zorn verfärbte sein Gesicht.
»Es waren Steingänger!«, rief Wynn, obwohl Erz-Locken inzwischen verstanden hatte. »Euer verehrter Thallûhearag … war Hassäg’kreigi … wie Ihr!«
Erz-Locken machte einen schweren, donnernden Schritt auf Wynn zu, und gleichzeitig richtete sich der Meeresmann im Becken auf und hob seinen Speer. Wynn hatte plötzlich Angst, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen.
»Wagt es nie, mir zu drohen«, warnte sie. »Ich wette, nicht einmal Asche-Splitter weiß, was Ihr seid. Immerhin hatte er es auf den Wrait abgesehen, einen Diener des alten Feindes.«
Erz-Locken blieb eine Armeslänge entfernt stehen. Er hätte sie schnell töten können, aber Wynn vertraute darauf, dass er sich zurückhielt.
Sie spielte ein gefährliches Spiel, eines, das Leesil oder sogar Magiere versucht hätten: Mache dem Feind Angst, dass er vor allen das Gesicht verliert. Man warte darauf, dass er vor Zeugen einen Fehler machte, den er nicht korrigieren konnte, dass er sich eine Blöße gab, die es erlaubte, ihn zu erledigen.
Aber wie sollte Wynn in ihrem Fall vorgehen?
»Asche-Splitter wartet auf mich«, sagte sie kühl. »Und auch die Herzogin.«
Erz-Locken erbleichte, und sein Zorn löste sich auf.
Wynn blieb dennoch besorgt. Durchschaute er sie? Dann hob er die Hand und deutete zum Wesen im Becken.
Der Meeresmann ließ sich wieder sinken, bis nur noch die großen schwarzen Augen übers Wasser ragten.
»Setzt die Arbeit fort«, sagte Erz-Locken.
Wynn blieb stehen, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, bis er schließlich zurücktrat. Als sie sich umdrehte, klopfte ihr Herz so heftig, dass ihr das Atmen schwerfiel. Ganz langsam, mit möglichst ruhigen Schritten, kehrte sie zu den Truhen zurück und kniete vor dem improvisierten Tisch.
Es blieb noch eine Frage, die Erz-Lockens Bruder betraf.
Hochturm hatte das Zuhause nach seinem Bruder verlassen, um den Dienst im Tempel von Vater-Zunge anzutreten, was ihm letztendlich aber noch nicht genug gewesen war. Bei ihm schien es sich nicht um einen spirituellen Ruf gehandelt zu haben. Er hatte den Platz im Tempel für ein Leben in der Gilde aufgegeben, für ein Leben als
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