Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)
kein Ungeheuer. Es gab keinen Chane. Es gab nur noch schmerzhaften Hunger, der unbedingt befriedigt werden musste. Die Zähne blieben in der Kehle des Mannes, bis das Zappeln schwächer wurde. Chane hörte und fühlte den letzten Herzschlag des Opfers.
Schließlich hob er den Kopf und schluckte letztes Blut. Die Befreiung vom Hunger ließ ihn taumeln, und es war herrlich, neue Kraft zu spüren. Er öffnete die Augen und sah einige wenige Sterne in den Lücken zwischen hohen Wolken am dunklen Himmel.
Für ihn waren sie so hell wie der Vollmond, und sie erinnerten ihn an etwas …
Träumen Edle Tote?
Bei der Erinnerung an Wynns Stimme verkrampften sich Chanes Muskeln, und er hörte ein dumpfes Knacken.
Knochen bewegten sich unter seiner linken Hand. Sofort senkte Chane den Blick vom Himmel.
Der Kiefer des Händlers war gebrochen. Das Ungeheuer in Chane knurrte in gesättigter Zufriedenheit, und Chane wagte nicht, die Augen zu schließen, aus Angst davor, Wynns anklagenden Blick zu sehen.
Die Edlen Toten … Träumen sie, wenn sie schlafen … oder »dämmern«?
Chane schauderte in jäher Kälte.
Vielleicht träumten Edle Tote – und damit auch er – tatsächlich, aber nicht immer. Wann hatte es begonnen? Manchmal wurden ihm Gliedmaßen und Lider schwer, und wenn er dann in die wartende Dunkelheit sank, dachte er an Wynn.
Er sah sie in der Bibliothek der Weisengilde von Bela. Oder er stellte sie sich in einem fernen Schloss vor, auch dort mit Büchern, Pergamenten und alten Schriftrollen beschäftigt. Während des letzten Dämmerns hatte er sie in ihrem kleinen Zimmer in der Gilde von Calm Seatt gesehen, ein Ort, an dem er nur einmal gewesen war.
Welche Bilder auch immer an seinem inneren Auge vorbeizogen, wenn er tagsüber »schlief« – Wynn war immer bei ihm. Aber … gab es sonst noch etwas?
Manchmal bewegte sich etwas in dunklen Ecken oder unter einem Tisch, unerreicht vom Licht, das im Traum von Wynns Kaltlampe kam. Etwas wie Sterne oder wie ein Glitzern auf einer dunklen, reflektierenden Oberfläche, die sich wellenförmig bewegte, oder wie der Leib einer Schlange. Aber wenn er dann den Blick darauf richtete, verschwand das Etwas, ohne irgendetwas preiszugeben.
Es geschah meistens kurz vor der Abenddämmerung, wenn das Dämmern zu Ende ging. Und es war auch geschehen, als er für die Rückfahrt mit der Tram nach Buchtseite zu früh aufgestanden war. Wynn hatte ihn geweckt und …
Das Knurren des Ungeheuers ließ Chane erstarren.
Hatte er die junge Weise angegriffen und auf den Boden gedrückt? Nein, das konnte, das durfte nicht passiert sein.
Er löste die Hand vom gebrochenen Kiefer des Mannes und ließ sie sinken. Nichts von all dem spielte eine Rolle. Wichtig war nur sein Wunsch nach ihrer Nähe, fast ebenso intensiv wie der Jagdinstinkt. Er brauchte sie so sehr, dass sich dieser Wunsch sogar während des Dämmerns bemerkbar machte. Jetzt war er stark, seine Gedanken klar und scharf, und Wynn durfte nicht erfahren, auf welche Weise er neue Kraft bekommen hatte.
Chane bückte sich, wischte sein blutiges Gesicht am Mantel des Mannes ab, hob die Leiche dann hoch und warf sie über die Schutzmauer.
Ein Opfer unter vielen. Was bedeutete es schon? Nichts.
Vampire entwickelten im Lauf der Zeit unterschiedliche individuelle Fähigkeiten. Chane hatte nach und nach gelernt, den Unterschied zwischen Wahrheit und Täuschung zu fühlen . Nicht oft, meistens dann, wenn er es nicht erwartete.
Das Ungeheuer in ihm knurrte erneut, und es klang wie eine Warnung vor einer Gefahr.
Würde Chane die eigene Lüge Wynn gegenüber hören und fühlen?
Sau’ilahk wartete in einem Seitentunnel von Meerseite, nicht weit von einer gewöhnlichen Zwergen-Taverne namens Maksûin Bití – Geködeter Bär – entfernt. Stark und wachsam war er aus dem Dämmern gekommen, erfüllt von der Lebenskraft dreier Opfer. In dieser zweiten Nacht im Innern des Berges begann er, die vielen dunklen Orte zu schätzen.
Wynn war zum Tempel in Buchtseite zurückgekehrt, aber das spielte derzeit keine Rolle. Unmittelbar nach dem Erwachen hatte er zwei Diener der Luft beschworen und sie auf die Suche nach dem Wort »Thänæ« geschickt. Wo auch immer es ausgesprochen wurde: Die Diener sollten alle betreffenden Gespräche aufzeichnen. Eines davon hatte sich als nützlich erwiesen, geführt von aufgeregten Zwergenstimmen:
»… Thänæ kommt heute Abend!«
»Wo hast du das gehört? Seit fast einer Jahreszeit hat ihn niemand
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