Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)
ständig an die erlittene Schmach, und an die Schande, die er über den ganzen Seatt gebracht hatte. Man kann nur vermuten, dass die übrigen Bewohner den Ort nach und nach mit ihren Familien verließen. Einige von ihnen machten sich vielleicht auf die Suche nach den Geheimnissen, von denen sie in Vater-Zunges Geschichten gehört hatten.
Aber Habgier blieb, das steht fest.
Eines Tages erwachte er allein neben seinem verlorenen Schatz und weinte, denn es war niemand mehr da, von dem er etwas kaufen konnte. Er hatte keine Bediensteten mehr, keine Lasttiere, niemanden, der ihm dabei helfen konnte, all die Münzen und Edelsteine fortzutragen. Aber Habgier wollte sie nicht dort liegen lassen.
Irgendwo an einem vergessenen Ort ruhen die Knochen eines …
Wynn beugte sich vor und betrachtete erneut die seltsame Vubrí .
… ruhen die Knochen eines Lhärgnæ … eines Gefallenen … auf einem großen Haufen aus Silber, Gold und bunten Edelsteinen. Aber suche nicht nach jenem Ort.
Habgier wartet darauf, alle zu kaufen, die zu ihm kommen.
Wynn saß still auf der steinernen Bank und dachte nach.
Bedzâ’kenge – Vater-Zunge – hatte einen Gefallenen bezwungen. Er hatte einen ganzen Seatt von Gier und Geiz eines Mannes befreit, mit Klugheit und Geschichten. Doch der Bericht, den Wynn gerade gelesen hatte, warf mehr Fragen auf, als er beantwortete. Die letzte Zeile schien sich auf bestimmte Glaubensvorstellungen und die Ahnenverehrung der Zwerge zu beziehen.
Bedzâ’kenge wurde als einer der Bäynæ verehrt, als ein Ahnengeist, der noch immer bei seinem Volk weilte, auch jetzt. Aber was war mit Shundagh … mit Habgier? Glaubten die Zwerge, dass auch jener Lhärgnæ noch Präsenz und Einfluss in dieser Welt hatte? Das würde erklären, warum die Ewigen nicht nur die Tugend verherrlichten, sondern auch vor Laster schützten … vor den Gefallenen. Die Zwerge schienen davon auszugehen, dass solche Feinde in dieser Welt existierten und auf der Lauer lagen, bereit zum Angriff auf die Tugenden.
Wynn erinnerte sich an einen Namen, nein, einen Titel, den sie in Hochturms Arbeitszimmer gehört hatte, an dem Tag, als Erz-Locken zu Besuch gekommen war.
Thallûhearag.
Dieser Saal enthielt Geschichten über Vater-Zunges Leben und seine Heldentaten, und die Schilderungen erwähnten mindestens einmal einen Gefallenen, für alle ganz offen zu lesen. Doch Klöpfel schien aufgebracht gewesen zu sein, als Wynn nach Thallûhearag gefragt hatte. Und warum hatten die Lhärgnæ Titel anstatt richtiger Namen?
Bei den ihr bekannten Bäynæ fehlten zwar Hinweise auf die Familie oder den Clan, dem sie zu ihren Lebzeiten angehört hatten, aber sie schienen ihre wahren Namen behalten zu haben. Bei den Lhärgnæ hingegen sah die Sache anders aus, oder zumindest bei jenen, von denen Wynn gelesen hatte, wie Shundagh beziehungsweise Habgier. Wenn Thallûhearag zu ihnen gehörte … dann konnte sie nicht feststellen, wer oder was er einst gewesen war. Wie sollte sie die Bedeutung jenes Titels herausfinden, wenn die wenigen, die noch darüber Bescheid wussten, nicht über den mythischen Bäalâle Seatt sprechen wollten?
Was hatte Thallûhearag zu dem Ort geführt? War er an seinem Fall während des großen vergessenen Krieges beteiligt gewesen? Alle Informationen in Bezug auf jene Ereignisse mochten wichtig sein, und Wynn sehnte sich danach, mit jemandem darüber zu reden. In einem Anflug von Nostalgie wünschte sie sich, die Geschichte Chap vorlesen zu können, um zu erfahren, was er davon hielt.
Etwas Warmes und Feuchtes berührte ihre Hand.
Schatten drückte ihre Schnauze unter Wynns Finger und legte sie auf den Oberschenkel.
»Wenn du doch nur Worte verstehen könntest«, flüsterte Wynn. »Ich würde gern wissen, was du über dies denkst.« Dann lächelte sie schief. »Wie dumm von mir.«
Schatten stellte die Ohren auf, hob dann plötzlich den Kopf, lief einige Schritte und spähte ums Ende der Zwischenwand.
»Was ist?«, fragte Wynn.
Ein in der Ferne erklingender Schrei des Kummers erreichte den Saal der Steinworte.
Wynn eilte Schatten hinterher, aber als sie den Eingang erreichte, lief die Hündin bereits durch den Flur.
»Schatten, warte! Bleib stehen!«, rief sie ihr zu, doch Schatten gehorchte nicht.
Die Hündin wurde erst langsamer, als sie zum Ende des Flurs gelangte, zu der Stelle, wo er auf den Tunnel traf, der bogenförmig rings um den ganzen Tempel führte. Wynn hatte fast zu ihr aufgeschlossen, als sie sich erneut in
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