Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Wynn beobachtete, wie Rodian den Blick unbeeindruckt erwiderte. Ob es an Pflichtbewusstsein, Ehrgeiz oder Ärger darüber lag, dass seine Ermittlungen bisher behindert worden waren: Sie sah ihre eigenen Hoffnungen in seinen Augen.
»Habe ich einen berechtigten Anspruch?«, fragte Wynn.
»Natürlich nicht!«, entfuhr es Hochturm.
Rodian hob die Hand. »Wenn ein reisender Schmied oder ein Gerber eine neue Arbeitsmethode entdeckt – gehört sie dann dem Meister, für den der Reisende arbeitet? Wenn sich der Reisende unterwegs neues Geschick aneignet, wem gehört es: ihm oder seinem Dienstherrn?«
Hochturm trat einen Schritt auf den Hauptmann zu und öffnete den Mund, brachte aber kein Wort hervor.
»Die neue Arbeitsmethode und das Geschick, das sich der Reisende aneignet – beide gehören ihm«, beantwortete Rodian seine eigenen Fragen.
»Dies ist etwas anderes«, warf Skyion ein.
»Wynn … «, ächzte Hochturm. »Du würdest dies nicht tun, wenn du wüsstest … «
»Ich verlange Zugang«, beharrte Wynn. »Andernfalls gehe ich zum Generalanwalt und lasse die Texte beschlagnahmen! Und ob mein Anspruch vor Gericht bestätigt wird oder nicht: Die Texte werden dabei offenbart.«
Rote Flecken des Zorns bildeten sich in Premin Skyions Gesicht. Sie verschwanden sofort wieder, als Sorge das Oberhaupt der Gilde überwältigte.
Am nächsten Morgen wanderte Rodian unruhig durch einen verschwenderisch eingerichteten Salon des königlichen Schlosses. Man hatte ihn hierher gerufen, und er fragte sich, was ihn erwartete. Vielleicht wollten die Königlichen, dass er ihnen persönlich von seinen Fortschritten berichtete, beziehungsweise von seinem Versagen.
Drei seiner Männer waren tot. Die Kosten für die Reparatur von a’Seatts Skriptorium würden hoch ausfallen, denn offenbar waren auch das Dach und der Tresen im Empfangsraum beschädigt worden. Ein Mitglied der Gilde, die den Königlichen so sehr am Herzen lag, war am Tatort gefasst worden, nicht aber der wahre Übeltäter. Eigentlich konnte er dem Ermittlungsstand nur einen Punkt hinzufügen: Mindestens einer der Verdächtigen verfügte über die Fähigkeiten eines Magiers.
Rodian blieb stehen.
Er musste sich bei seinem Bericht auf das Wesentliche konzentrieren und alles auf eine vernünftige Weise erklären. Die Königlichen konnten es ihm nicht zur Last legen, dass jemand mit arkanen Fähigkeiten entkommen war. Er musste seine Worte sorgfältig wählen, um das Vertrauen in die eigene Tüchtigkeit wiederherzustellen. Immerhin bot sich ihm jetzt die Chance herauszufinden, worum es ging, was es mit den Texten und dem geheimnisvollen Übersetzungsprojekt der Gilde auf sich hatte.
Diese Hoffnung hatte ihm Wynn Hygeorht gegeben.
Nachdem die drei Weisen am vergangenen Abend gegangen waren, ohne ein Wort miteinander zu wechseln, hatte Rodian eine schlaflose Nacht verbracht und sich immer wieder gefragt, welche Folgen sich aus Wynns Forderungen ergeben mochten. Würde sich Skyion als Oberhaupt des Premin-Rats Wynns Forderungen widersetzen? Und würde die junge Reisende klein beigeben, wenn sich die Premin weigerte, ihren Forderungen nachzugeben?
Rodian verabscheute Ungewissheit mehr als alles andere. Immer wieder erschien Wynns entschlossenes Gesicht vor seinem inneren Auge, doch er schob das Bild beiseite. Erst musste er die Begegnung mit den Königlichen hinter sich bringen.
Der Hauptmann setzte seine unruhige Wanderung durch den Salon fort.
Den dicken Teppich und die sehr gepflegten teuren Möbel bemerkte er kaum. Einige von ihnen waren vermutlich schon seit Generationen im Besitz der Âreskynna-Familie. Sofas aus Walnussholz waren mit meergrüner und zyanblauer Seide gepolstert und von Künstlerhand bestickt. Die verputzten Wände zeigten einen weichen cremefarbenen Ton, und am Eingang hingen goldgelbe Gardinen. Das große Wappen der königlichen Familie war in die Doppeltür geschnitzt: ein aufrechtes Schwert vor dem Hintergrund eines quadratischen Segels und einer stürmischen See.
Dies war eine ganz andere Welt als das Grasland im Osten und die Bauernhöfe von Rodians Jugend. Mit Geschick und Eifer hatte er sich hochgearbeitet, und er wollte seine gegenwärtige Stellung nicht verlieren, weil ein Magier wegen irgendwelcher Texte Weise umbrachte.
Die beiden Flügel der verzierten Tür schwangen auf.
Rodian sah in die großen bernsteinfarbenen Augen eines alten Elfen, der einen weißen Umhang trug und aus seiner Verachtung kaum einen Hehl machte. Der Umhang
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