Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Wissensstand ist sie unschuldig«, antwortete Rodian behutsam.
Reine seufzte leise, aber Âthelthryht runzelte erneut die Stirn.
»Wie wir hörten, erhebt die Reisende einen persönlichen Anspruch auf die Texte, die sie der Gilde gebracht hat«, fuhr die Herzogin fort. »Sie soll sogar bereit sein, diese Angelegenheit vor Gericht zu tragen. Dann käme die Übersetzungsarbeit der Gilde nicht mehr voran.«
Rodian wahrte einen neutralen Gesichtsausdruck. Nur zwei Gildenmitglieder wussten von Wynns Anspruch: Hochturm und Skyion. Und nur die Premin unterhielt direkte Kontakte zur königlichen Familie: »Lady« Tärtgyth Skyion hatte die Herzogin sie genannt.
Ärger regte sich in Rodian.
»Wir haben mit dem Generalanwalt gesprochen«, sagte Prinzessin Âthelthryht. »Der Anspruch, den die Reisende Hygeorht erhebt, könnte durchaus berechtigt sein. Aber wenn sie jene Texte in ihren Besitz bringt, so stellt sich die Frage, was aus ihnen wird … und wer Zugang dazu bekommt. Wie wir hörten, handelt es sich um Material von … heikler Natur.«
Rodian benötigte seine ganze Willenskraft, um ruhig zu bleiben. Was versuchte die königliche Familie zu schützen, selbst um den Preis ermordeter Gildenmitglieder? Was sollte geheim bleiben?
»Das Projekt muss fortgesetzt werden«, sagte die Herzogin und beugte sich vor. »Und die Texte müssen in den Händen der Gilde bleiben. Wir möchten, dass Ihr als inoffizieller Schlichter zu Premin Skyion geht und einen Kompromiss sucht.«
»Einen Kompromiss?«, wiederholte Rodian.
Âthelthryht sprach dort weiter, wo Reine aufgehört hatte. »Wir möchten, dass Ihr Premin Skyion bittet, der Reisenden Hygeorht Zugang zu den bereits übersetzten Texten zu gewähren, aber unter Aufsicht, damit sichergestellt ist, dass die Unterlagen nicht in die falschen Hände geraten. Wenn die Reisende auf die kompletten Texte verzichtet, soll sie alle Übersetzungen sehen können, die seit ihrer Rückkehr aus den Fernländern angefertigt wurden.«
»Siweard … « Die Herzogin ließ sich ihre Besorgnis deutlich anmerken. »Glaubt Ihr, die junge Weise lässt sich darauf ein?«
Âthelthryht sah zu Reine hinab, als die den Hauptmann mit dem Vornamen ansprach. Dann hob sie den Blick und richtete ihn erwartungsvoll auf Rodian.
»Vielleicht«, sagte er.
Wynn wollte herausfinden, auf welche Folianten es der Dieb und Mörder abgesehen hatte. Offenbar ging sie davon aus, dass er nach bestimmten Texten suchte. Der Übeltäter – dazu fähig, durch Wände zu gehen – hatte bisher nicht versucht, die Originale in seinen Besitz zu bringen.
Rodian dachte daran, dass die hochrangigen Mitglieder der Gilde seinen Fragen bisher nur mit Verachtung begegnet waren.
»Warum ich?«, erwiderte er. »Skyion wäre sicher weitaus zugänglicher, wenn die Herzogin mit einer solchen Bitte an sie heranträte.«
Reine schüttelte langsam den Kopf. »Es sähe nicht gut aus, wenn die königliche Familie auf eine solche Weise interveniert. Es könnte zu viel Aufmerksamkeit auf die Übersetzungsarbeit der Gilde lenken. Man könnte es sogar für den Versuch der königlichen Familie halten, sich über das Gesetz hinwegzusetzen, und möglicherweise brächte es Wynn Hygeorht dazu, überstürzt zu handeln. Ihr habt immer ein gutes Urteilsvermögen und Diskretion bewiesen, sowohl bei der Wahrung des Friedens als auch bei der Arbeit für die besten Interessen des Volkes.«
Rodian musterte sie. Erwartete sie von ihm, dass er den Einfluss seines Amtes geltend machte, wenn sich Skyion weigerte, seinem Anliegen nachzukommen?
»Habt Ihr eine Vorstellung davon, wer gestern Abend entkommen ist?«, fragte Âthelthryht plötzlich.
Der Themawechsel überraschte Rodian, und er zögerte. Die schwarze Gestalt war ihm größer erschienen als Ghassan il’Sänke, doch der sumanische Weise genoss in der Gilde den Ruf, ein fähiger Magier zu sein.
»Ich denke schon«, sagte er schließlich. »Aber ich kann keine Namen nennen, solange mir konkrete Hinweise fehlen.«
Die Falten verschwanden von der Stirn der Prinzessin. Als sich ihr Gesicht wieder in eine Maske verwandelte, glaubte Rodian, für einen Moment so etwas wie Erleichterung in ihren aquamarinblauen Augen zu erkennen.
»Wir möchten, dass Ihr dem Morden ein Ende setzt und gleichzeitig das Projekt der Gilde schützt«, sagte sie. »Wir wären Euch sehr dankbar, wenn Euch das gelänge. Wirklich sehr dankbar, Hauptmann.«
Rodian hielt unwillkürlich den Atem an.
Diese Worte waren deutlich
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