Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Folianten zu stehlen.
Er blieb stehen, setzte sich auf die Bettkante und ließ seinen Blick über die verblichenen vier Wände und die schräge Decke gleiten. Die Ereignisse schienen sich chaotisch zu entwickeln und seiner Kontrolle zu entgleiten. Wie war es dazu gekommen?
Er strich sich das rotbraune Haar aus der Stirn, dachte zurück und erinnerte sich daran, was ihn den ganzen weiten Weg von Bela bis hierher gebracht hatte.
Nachdem er dort erfahren hatte, dass Wynn in die Numanischen Länder zurückgekehrt war, schien seine Existenz plötzlich leer, ohne Sinn.
In seiner Verzweiflung hatte er versucht, Welstiels arkane Objekte besser kennenzulernen und seine Tagebücher zu entziffern. Seine Bemühungen waren nur wenig erfolgreich, aber es gelang ihm, ein Geheimnis zu entschleiern, das nicht mit Welstiels Beschwörungen in Verbindung zu stehen schien.
Das älteste Tagebuch hatte ein Pergament als Schutzhülle, wodurch es ein wenig umständlich zu handhaben war. Als Chane es abnahm, entdeckte er auf der Innenseite eine Liste. Unter den numanischen Namen für Kräuter fand er auch ein Wort auf Belaskisch: »Keilerglocke«.
Es gab auch andere Bezeichnungen dafür, zum Beispiel Düsternacht, Albtraumhauch und Schwarzbann. Die gelben, glockenförmigen Blumen hatten einen pflaumenfarbenen Rand. Für die Lebenden waren sie giftig und tödlich; allein ihr Duft konnte ein Delirium bewirken. Chane war dem seltsamen Fischgeruch zweimal begegnet: das erste Mal bei den Blütenblättern auf dem Tisch eines Mönchs und Heilers in einem abgelegenen Bergkloster, und das zweite Mal …
Chane sah sich Welstiels Habe genauer an.
Er holte einen langen, flachen Kasten aus dem Rucksack, aus schwarzem Leder und in indigoblauen Filz gehüllt. Er enthielt sechs Phiolen in gepolsterten Fächern, jede mit einem silbernen Verschluss. Aber nur zwei von ihnen enthielten noch eine seltsame Flüssigkeit, die zweite Phiole nur bis zur Hälfte. Ahnungslose hätten sie vielleicht für wässrige violette Tinte gehalten.
Chane schnupperte vorsichtig an der vollen Phiole, ohne sie zu öffnen. Deutlich nahm er den Fischgeruch wahr und ließ das kleine gläserne Gefäß sofort sinken.
Erneut sah er sich die Innenseite des Pergaments an. Auf der rechten Seite zeigte sich ein Diagramm mit Symbolen, von denen er die meisten nicht kannte. Vielleicht handelte es sich um eine Art Formel.
Alle Phiolen waren voll gewesen, als Welstiel und er das Kloster verlassen hatten, begleitet von sechs Mönchen, die Welstiel in wilde Untote verwandelt hatte. Irgendwann während der Reise zu den Pockenhöhen und dem von Eis und Schnee umgebenen Schloss, in dem die uralte Vampirin gehaust hatte, war der Inhalt der anderen Phiolen verschwunden. Was hatte Welstiel damit angestellt? Und wie hatte er die Flüssigkeit hergestellt?
Chane erinnerte sich daran, dass Welstiel im Verlauf der Reise immer besessener davon gewesen war, die »Kugel« in seinen Besitz zu bringen. Wenn sich Chane morgens in den Dämmerzustand zurückgezogen hatte, den Schlaf der Untoten, war Welstiel immer noch hellwach gewesen. Und wenn Chane abends erwachte, war Welstiel bereits auf den Beinen, offenbar schon seit einer ganzen Weile.
Chane zweifelte nicht daran, dass die Liste auf der Innenseite des Pergaments die Zutaten angab, die nötig waren, um jene Flüssigkeit herzustellen. Das einzige Problem betraf die Blumen, denn die waren schwer zu finden. Manche behaupteten, die hätten trotz ihrer Giftigkeit heilende Eigenschaften, doch das glaubte er nicht. Er schloss den schwarzen Lederkasten wieder, steckte ihn in den Rucksack zurück und hüllte das Buch in seinen vermeintlichen Schutzumschlag.
Manchmal wurde seine Unruhe so groß, dass er an den Kais und Anlegestellen des Hafens von Bela entlangwanderte. Oder er begab sich zum südlichen Stadtrand, stand dort am Ufer und blickte über die Bucht und das offene Meer dahinter. Er nahm sich die Zeit, einen Apotheker aufzusuchen, der widerstrebend einräumte, dass er insgeheim auch Keilerglocke verkaufte, an ausgewählte Kunden. Chane bezahlte viel Geld für eine kleine Menge, denn er hatte weder Zeit noch Gelegenheit, sich selbst auf die Suche nach den Blumen zu machen.
Manchmal jagte er, aber nur in den ärmeren Vierteln der Stadt.
Seine Existenz schien immer sinnloser zu werden, bis er eines Nachts am südlichsten Pier ein Geschöpf mit dunklem Pelz sah.
Zuerst achtete er nicht weiter darauf. In der Stadt mangelte es nicht an streunenden
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