Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Tier sich an Bord des Schiffes geschmuggelt hatte.
Er fand die Truhe, deren Schnallen noch immer offen waren, doch es widerstrebte ihm, den Deckel zu heben. Der Ring verbarg zwar sein wahres Wesen, aber wenn er den Hund erschreckte, forderte er ihn vielleicht zu einem Angriff heraus. Vorsichtig hob er den Deckel die Hälfte einer Handbreite, doch selbst sein Blick konnte die Dunkelheit darunter nicht durchdringen. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als den Deckel ganz zu heben.
Die Truhe enthielt nur die zusammengefalteten Tücher, die er zuvor gesehen hatte.
Chane sah sich erneut im Frachtraum um. Nichts deutete auf die Präsenz des Hunds hin; er konnte ihn nicht einmal riechen. Nach einer Weile verließ er den großen Raum mit der Fracht und suchte seine Kajüte auf.
Wenigstens war das Tier nicht in der Truhe gefangen. Es würde also nicht verdursten oder verhungern. Chane wollte gar nichts mit ihm zu tun haben und nur in Erfahrung bringen, warum es sich an Bord befand und ob es wirklich zu Wynn wollte.
Während der langen Reise nahm er nur zwei Opfer: einen armen Passagier aus dem Zwischendeck und einen Matrosen. Beide Male wartete er stürmisches Wetter ab und warf die Leichen über Bord – es sollte so aussehen, als seien sie Opfer des Meeres geworden. Abgesehen davon hielt er sich zurück und teilte seine Kraft ein, damit er nicht noch einmal Nahrung brauchte.
Den Hund sah er nicht ein einziges Mal, und er fragte sich, ob er sich von Ungeziefer im Frachtraum ernährte oder bei irgendeinem Besatzungsmitglied untergekommen war. Vielleicht hatte ihn einer der Offiziere im Achterschiff zu sich genommen.
Schließlich erreichte der Dreimaster den freien Hafen von Langinied, der langen Insel vor der Küste des mittleren Kontinents, und ging des Nachts vor Anker. Chane bestand darauf, sofort von Bord zu gehen, was den Zahlmeister verärgerte, weil er noch vor dem Morgengrauen ein Boot absetzen und zu den Anlegestellen rudern lassen musste.
Eine große Stadt, die sich auf felsigem Gelände erstreckte, erwartete ihn, aber es handelte sich mehr um ein wild wucherndes Durcheinander aus Handelshäusern, Geschäften und Wohngebäuden. Langinied war gewachsen, weil sich die von der Küste des Sumanischen Reichs kommenden Schiffe hier mit allen notwendigen Dingen versorgten, bevor sie die lange Reise über den Ozean antraten, bis zu den »Fernländern«, wie die Weisen sie nannten. Hinzu kamen Karawanen aus den Gebrochenen Ländern, einer wilden, unzivilisierten Region, die sich von der Ostküste des Kontinents bis fast zu den Numanischen Ländern auf der westlichen Seite erstreckte.
Chane blieb in Langinied und beobachtete das Schiff, bis es den Hafen am fünften Abend verließ. Den Hund sah er nie wieder. Er hatte gehofft, dass ihm das seltsame Tier den Weg wies, und ohne seine Führung fühlte er sich erneut verloren und stellte sein Handeln infrage. Er hatte Wynn geschworen, ihr nie wieder zu begegnen, doch hier war er, auf dem Weg nach Calm Seatt.
Im Vergleich mit der Reise über Land, wirkte die übers Meer kurz.
Unterwegs gab es nichts, vor dem sich ein Untoter fürchten musste. Manchmal verharrte er etwas länger an einem Ort und versuchte, mehr von Welstiels Aufzeichnungen zu verstehen. Oder er blätterte durch die Texte, die aus dem Kloster der Heiler-Mönche stammten. Jedes mit Tinte geschriebene Worte erinnerte ihn an Wynn. Er stellte sich vor, wie sie im Licht der Kaltlampe in ihrem Zimmer saß und vielleicht die Texte las, die sie aus dem Eisschloss mitgenommen hatte.
Chane jagte Tiere, um bei Kräften zu bleiben, obwohl ihr Blut keine so gute Nahrung für ihn bot wie das von Menschen. Er begegnete Wölfen, wilden Hunden, Bären und sogar einem Puma, um den er einen weiten Bogen machte, und nur einmal sah er ein zweibeiniges Geschöpf.
Es war weder Mensch noch Elf.
Eines Abends kroch er früh unter der Plane hervor, die ihn vor dem Sonnenlicht schützen sollte, und fühlte sich beobachtet.
Der einzige von Welstiel stammende Gegenstand, über den er etwas herausgefunden hatte, war der stählerne Reif, der Feuer herbeirufen konnte. Ohne sich umzusehen und dem Beobachter damit zu erkennen zu geben, dass er von ihm wusste, legte er den Reif auf den Boden.
Er war etwa so groß wie ein Teller, und die hauchdünnen schwarzen Linien und Zeichen darin rochen ein wenig nach Holzkohle. Chane krächzte eine Beschwörung, strich dabei mit dem Finger über den Reif und riss die Hand dann zurück –
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