Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Vermutlich witterte es, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung war oder er sich von anderen Personen unterschied. Chane wollte Wynn nach dem Tier fragen, doch die Erwähnung des Sumaners brachte Bilder vom letzten Abend zurück.
Die schwarze Gestalt, die Wynn angriff, der Wolf, der sie zu schützen versuchte, das Aufblitzen des Kristalls …
Chane erzitterte, und Wynns Finger zuckten von der wunden Haut zurück. Verlegen blickte sie sich in dem kleinen Dachzimmer um.
Schäbige Wände, eine schiefe Decke, ein Stuhl, der als Tisch diente, das schmutzige, angeschlagene Waschbecken …
Verlegenheit und Scham waren etwas, das es in Chanes Leben nicht gegeben hatte. Als Sohn eines Adligen hatte er in einer prächtigen Villa gewohnt, teure Kleidung getragen und eine Bildung erworben, die über das hinausging, was die meisten Angehörigen des Adels erreichten oder auch nur für erstrebenswert hielten. Jetzt lebte – existierte – er in Elend; eigentlich waren ihm nur seine Studien geblieben.
Und es gab niemanden, dem er die Schuld daran geben konnte, nicht einmal Welstiel.
Wynn begann wieder damit, Salbe auf die Wunden zu streichen, und dabei kam sie dem Messingring an seiner linken Hand nahe, ohne ihm Beachtung zu schenken, wie es schien. Chane merkte plötzlich, wie der Schmerz in seiner rechten Hand nachzulassen begann. Die Salbe heilte ihn vielleicht nicht, enthielt aber offenbar etwas, das selbst auf sein totes Fleisch wirkte. Er schloss die rechte Hand vorsichtig und stellte fest, dass der Schmerz kaum zunahm.
»Hast du etwas über die Schriftrolle herausgefunden?«, fragte er.
Interesse erschien in Wynns Gesicht. »Nein, dazu fehlte mir die Zeit. Ich bin in den Katakomben gewesen und habe übersetzte Teile der Texte gelesen. Gegen Abend wurde mir allmählich klar, welche Abschnitte der Übersetzungen gestohlen worden sind.«
Chane erstarrte. Wynns Worte erstaunten ihn in mehrfacher Hinsicht.
»Vorher hattest du keinen Zugang zu den Texten? Du hast sie mitgebracht; sie gehören dir.«
Wynn seufzte. Sie nahm das Glas, stand auf und begann damit, ihm Salbe ins Gesicht zu streichen.
»Die Angelegenheit ist ein bisschen kompliziert. Nein, bis heute hatte ich keinen Zugang. Nur die Meister und Domins, die an dem Projekt arbeiten, durften bislang die Texte einsehen.«
Chane hörte den Zorn in Wynns Stimme und schloss daraus, dass dieses Thema einen sehr persönlichen Aspekt hatte.
»Hast du eine Ahnung, was auf den fehlenden Seiten steht?«, fragte er.
Wynns Finger hielten inne, und ihr Blick ging ins Leere.
»Li’käns Schriften an den Wänden erwähnten zwei Gefährten: Volyno und Häs’saun. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist, aber ich habe die Übersetzungen der Texte vor den fehlenden Seiten gelesen … «
Sie erzählte ihm von den Untoten, so alt wie die weiße Frau mit den sonderbar geformten Augen im eisigen Schloss. Sie erwähnte Namen und sprach von einem »Geliebten« – vielleicht war es jenes Geschöpf gewesen, zu dem Welstiel geflüstert und von dem Magiere ihre Träume vom Schloss empfangen hatte. Außerdem berichtete Wynn von »getrennten« Untoten.
Chane dachte über die genannten Namen nach. Gab es andere Untote wie die weiße Frau, die sich nach all den Jahrhunderten frei auf der Welt herumtrieben?
Wynn schwieg gedankenverloren und richtete dann einen durchdringenden Blick auf Chane.
»Hat Welstiel jemals von dem Etwas in seinen Träumen erzählt? Magiere vermutete, dass ihm ein fremder Einfluss den Weg wies.«
Chane schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass etwas ihm zuflüsterte, wenn er ruhte, und ihm manchmal sagte, wohin er gehen sollte. Aber wenn man bedenkt, wie oft wir unterwegs waren und dabei die Richtung wechselten … Vielleicht gab ihm jene Stimme nur ungenau Auskunft. Er war davon besessen, Magiere vor sich herzutreiben. Offenbar glaubte er, sie für irgendetwas zu brauchen. Als ihr das Reich der Elfen erreicht habt … Da beschloss er, sich selbst auf die Suche nach dem Artefakt zu machen.«
Es genügte, Magieres Namen zu nennen, um es in Chane brodeln zu lassen. Er glaubte zu sehen, wie sich in Wynns Gesicht etwas veränderte, als sie die Narbe an seinem Hals sah.
»Ein Teil von dem, was Welstiel während seiner Ruhezeit erfuhr, erwies sich als falsch«, fuhr Chane fort. »Wann begannen die Träume bei Magiere?«
»Als wir zur nördlichen Bucht des Elfenreichs gelangten«, antwortete Wynn. »Man versprach uns ein Schiff, das uns nach Süden bringen
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