Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
hatte sie auf die altmodische Art und Weise verriegelt – um Fragen vorzubeugen – und holte den Schlüssel hervor, den er am Hals trug.
»Was befindet sich in den Gläsern der Brille?«, fragte Wynn plötzlich. »Warum werden sie dunkel?«
»Dem Glas wurde im geschmolzenen Zustand thaumaturgische Tinte hinzugefügt«, antwortete il’Sänke. »Es ist nichts Kompliziertes, und es sind nicht unbedingt die besten Gläser für eine Brille. Später habe ich herausgefunden, dass sie nicht nur auf grelles Licht reagieren, sondern auch auf plötzliche Temperaturschwankungen. Vergiss diese Nebenwirkung nicht.«
Er öffnete die Tür und ließ Wynn und Schatten eintreten.
Seine Unruhe legte sich erst, als sie in seinem Arbeitszimmer allein waren. An der einen Wand stand eine alte Couch mit Kissen. Auf der anderen Seite präsentierte der Schreibtisch ein Durcheinander aus Pergamenten, Federkielen und Kohlestiften. Der Boden war dort staubig, wo ihn nur selten Füße berührten, und an zwei Wänden gab es Regale, halb mit Büchern gefüllt. Il’Sänke hatte nur wenige Texte von zu Hause mitgebracht. Der Rest war bei seinem Eintreffen schon hier gewesen oder stammte aus der Bibliothek. Eine zweite Tür führte ins Schlafzimmer des Gästequartiers.
Wynn sah zum Schreibtisch und hielt die Brille noch immer in der Hand. Sie schien enttäuscht zu sein.
»Es ist alles so … «
»Normal und gewöhnlich?«, fragte il’Sänke.
Er war nicht in der Stimmung, den Zustand seiner Unterkunft mit ihr zu diskutieren. All jene Dinge, die andere nicht zu Gesicht bekommen sollten, waren gut verborgen, so oder so.
»Manchmal trügt der Schein«, fügte er hinzu. »Zum Beispiel bei deinem großen Freund. Er ist kein normaler Mensch, sondern einer deiner wandelnden Toten.«
Wynn versteifte sich, und Ghassan versuchte, weder zu lächeln noch zu lachen.
Er wusste, was ihr durch den Kopf ging, ohne ihre Gedanken zu berühren. Ihre erste Reaktion bestand aus der Bereitschaft, alles abzustreiten. Dann überlegte sie, ob sie schweigen, den Worten einfach keine Beachtung schenken sollte. Und schließlich folgte Resignation.
Wynn verzog wie schmerzerfüllt das Gesicht, doch Ghassan hatte kein Mitleid mit ihr. Er hatte nichts von Chane empfangen, nicht einen Gedanken, was praktisch unmöglich war. Anderseits hatte er auch noch nie Gelegenheit erhalten, die Gedanken eines Untoten zu lesen.
»Ja«, antwortete Wynn nach einer Weile. »Er ist ein Edler Toter … ein Vampir. Aber einem Weisen würde er nie etwas zuleide tun.«
»Und warum nicht?«
Er ahnte es bereits, aber je länger er Wynns Schuldgefühle stimulierte, und je mehr sie glaubte, sein Vertrauen verletzt zu haben, desto besser für ihn.
»Ich weiß es einfach«, sagte sie müde. »Was soll ich dir sonst noch sagen?«
»Mein Interesse gilt vor allem dem, was du anderen erzählen könntest. Vieles in den Texten weist auf Warnungen hin, vielleicht sogar Vorhersagen und Prophezeiungen, aber ich habe kaum etwas davon gesehen. Berichte mir von jener alten Bibliothek der uralten Untoten. Erzähl mir, was du in den Übersetzungen gefunden hast und in dieser Schriftrolle.«
Im Anschluss an diese Worte nahm er Wynns Tagebuch, das er in ihrem Zimmer vom Boden aufgehoben hatte, legte es auf den Schreibtisch und setzte sich.
Schatten sprang neben Wynn auf die Couch und beanspruchte den größten Teil davon, als sie sich zusammenrollte.
Wynns müder Blick richtete sich auf das Tagebuch, als verkörperte es das Ende einer langen Geschichte. Sie begann zu sprechen, leise und langsam zuerst, und erzählte, was sie im Reich der Elfen in Hinsicht auf den Ältesten Vater, die Anmaglâhk und die Furcht vor der Rückkehr des Alten Feindes erfahren hatte.
Sie schilderte die lange Seereise an der Elfenküste entlang und eine noch längere über Land, bis hin zu den schroffen Pockenhöhen. Sie berichtete von der weißen Untoten Li’kän, die sich weder an den Klang von Stimmen noch an ihren eigenen Namen erinnern konnte. Wynn hatte keine Hinweise darauf gefunden, was aus ihren alten Gefährten Volyno und Häs’saun geworden war.
Sie erzählte il’Sänke von den Ereignissen in der Höhle unter dem Schloss, sowohl von denen, die sie selbst erlebt hatte, als auch von den anderen, die sie aus den Berichten ihrer Gefährten kannte. Er erfuhr von den Überbleibseln Hunderter Diener, die wie Statuen aussahen und mit gesenktem Kopf in ihren Nischen knieten. Und er hörte von der »Kugel« und dem Chaos
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