Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Sicht.«
Wynn nahm die Brille alles andere als dankbar entgegen. »Was sollte ich tun? Du warst nicht da.«
»Nicht ich bin es, der so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht«, erwiderte il’Sänke und drehte sich zur Tür um.
Nach einem kurzen Blick in den Flur winkte il’Sänke, und sie brachen auf. Wynn verließ das Zimmer als Letzte, mit Schatten an ihrer Seite. An der Tür zum Hof blieben sie stehen. Il’Sänke vergewisserte sich, dass die Luft rein war, und daraufhin huschten sie zum Haupteingang und von dort aus zur Bibliothek. Der Domin nahm den gleichen Weg, den Chane, Wynn und Schatten genommen hatten, was Wynn erneut zu denken gab.
Im ersten Stock der Bibliothek ließ il’Sänke sie warten und sah sich weiter vorn um. Im matten Schein der Kaltlampen wandte sich Chane an Wynn. Das schwache Licht gab den Verbrennungen in seinem Gesicht einen orangefarbenen Ton.
»Ich helfe euch«, sagte er. »Ich möchte euch schützen … dich und die Gilde.«
»Ich weiß«, erwiderte Wynn, aber mehr Ermutigung bot sie ihm nicht an. Sie wollte keine falschen Hoffnungen in ihm wecken.
Domin il’Sänke kehrte zurück und brachte Chane nach oben.
Wynn setzte sich auf eine Bank an einem Studiertisch und fragte sich, wie il’Sänke Chane unbemerkt an Rodians Männern vorbeibringen wollte. Oder vielleicht benutzte Chane sein Seil, um an der Mauer herabzuklettern.
Gern hätte sie Schatten gestreichelt, aber ihre Gedanken kehrten immer wieder zu Chane zurück, und mit einer Berührung hätte sie vielleicht mehr verraten, als ihr lieb war. Sie musste vorsichtig sein. Wenn Schatten gewisse Erinnerungen empfing, war es ihr vielleicht nicht möglich, noch einmal an Chanes Seite zu kämpfen, und Wynn brauchte sie beide.
Sie eilten über die Mauer, und anschließend ging es die Treppe hinunter in den brachliegenden Garten beim Südturm. Dort verharrte Ghassan und hielt Wynns »Retter« mit einer Hand zurück.
Er bezweifelte, dass Chane in seinem derzeitigen Zustand imstande war, über Mauern zu klettern – vielleicht wäre er gefallen und hätte dadurch die Aufmerksamkeit der Wächter erregt. Es war einfach, den Soldaten die Vorstellung zu geben, dass sich jemand beim Nordturm herumtrieb. Doch die Sorge blieb in Ghassan, als die Wächter losliefen und in der Nacht verschwanden.
Sie galt dem sonderbaren Mann namens Chane und dem Umstand, dass er nicht einen Gedanken von ihm empfing. In Wynns Zimmer hatte er es versucht.
Beim Besuch der Herzogin hatte Ghassan nur etwas wahrgenommen, das einer gedämpften Stimme in einem geschlossenen Zimmer ähnelte, aber bei Chane blieb alles still. Er schien gar nicht zu denken.
Als die Wächter weg waren, winkte er Chane weiter. Ohne ein Wort lief der Mann durchs Tor.
Il’Sänke kehrte in den ersten Stock der Bibliothek zurück und fand Wynn dort auf einer Sitzbank, mit der Majay-hì zu ihren Füßen. Als sie ihn sah, stand sie auf.
»Komm, du verbringst die Nacht im nordwestlichen Gebäude, im Arbeitszimmer meiner Unterkunft«, sagte er. »Dort bist du sicherer.«
Wynn runzelte die Stirn und nickte dann – die Vorstellung, allein in ihrem Zimmer zu schlafen, schien ihr nicht zu gefallen. Il’Sänke führte sie zum Haupteingang zurück und dann über den Hof. Sie betraten das Lagerhaus, und anschließend ging es durch einen Flur, der bis ins neue Gebäude auf der anderen Seite der Mauer reichte. Im dortigen Erdgeschoss kamen sie durch einen Bereich, in dem il’Sänke manchmal Zeit bei den Metaologen verbrachte. Er warf einen Blick über die Schulter und bemerkte, dass Wynn durch einen großen Torbogen auf der linken Seite sah. Er wusste, was sich dort befand.
Kleine bunte Glasröhren, Mörser und Stößel, Brenner und Gefäße aus Zinn standen auf Tischen, die aus Stein bestanden, damit sie von gewissen Substanzen nicht angegriffen werden konnten. Alte Bücher ruhten in hohen Regalen über den Werkbänken und erstreckten sich an beiden Wänden. Wynn sah auch die Treppe, die nach unten in den Keller führte, der einen alchimistischen Brennofen enthielt, in Form eines großen, rußgeschwärzten Stahlfasses, das sich ganz nach Belieben drehen ließ. Durch dicke Glasscheiben konnte man beobachten, was im Innern des Ofens geschah.
»Hier bin ich seit langem nicht mehr gewesen«, sagte Wynn.
Schatten schien nervös zu werden und blieb noch dichter an Wynns Seite, als sie am Ende des Flurs eine Wendeltreppe hochgingen.
Vor einer Tür im zweiten Stock blieb il’Sänke stehen. Er
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