Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Kapuze über den Kopf gezogen.
Für ein oder zwei Sekunden glaubte Wynn, dünne Rauchfäden zu sehen, die von ihm aufstiegen, aber sie verschwanden sofort. Vorsichtig drehte Chane den Kopf und spähte unter seiner Kapuze hervor.
»Rühr dich nicht!«, zischte il’Sänke.
Wynn wirbelte besorgt herum.
Domin il’Sänke hatte eine Hand am Stab, direkt über der ihren. Sein Kopf war ein wenig nach vorn geneigt, und daraus schloss Wynn, dass er auf Chane hinabsah. Seine Augen konnte sie nicht erkennen, denn er trug eine Brille mit einem dicken Rahmen aus Zinn.
Die Gläser waren nicht klar, sondern dunkel. Sie veränderten sich jetzt. Die Schwärze wich aus ihnen, und schließlich zeigten sich Augen, die Chane beobachteten.
Nur selten hatte Wynn il’Sänke richtig zornig gesehen, doch jetzt erschrak sie fast, als sie sein Gesicht sah.
Jemand hämmerte an die Tür, und Premin Skyions Stimme kam aus dem Flur.
»Schnell! Wir müssen die Tür aufbrechen.«
Wynns Anspannung wuchs schlagartig bei der Vorstellung, dass noch jemand hereinkommen würde. Dann folgte Verwirrung. Die Tür war nicht abgeschlossen. Warum also sollte es nötig sein, sie aufzubrechen? Il’Sänke war problemlos hereingekommen …
Wynn sah den großen Domin an.
Il’Sänke bedeutete Chane, aufzustehen und sich an die Wand hinter der Tür zu stellen. Chane richtete einen fragenden Blick auf Wynn.
»Na los!«, flüsterte sie.
Chane stand auf und drückte sich an die Wand.
Il’Sänke ließ den Stab los und nahm die seltsame Brille ab. Er steckte sie in eine Tasche seines Umhangs, und mit der anderen Hand vollführte er eine Geste, die der Tür galt. Dann öffnete er sie teilweise und hielt sie fest, sodass niemand eintreten konnte.
»Es ist weiter nichts«, sagte il’Sänke durch den Spalt und lächelte schief. »Eine große Katze kam auf den Hof und begann zu miauen, und das gefiel der Majay-hì nicht. Wynn und ich haben versucht, sie zu beruhigen, und dabei ging es ein bisschen drunter und drüber. Dafür entschuldige ich mich.«
Wynn konnte Premin Skyion im Flur nicht sehen, hörte aber ihr verärgertes Seufzen.
»Wir sprechen morgen darüber«, sagte sie mit einer Mischung aus Ärger und Erleichterung.
»Ich werde dafür sorgen, dass alles ruhig bleibt«, versicherte ihr il’Sänke. »Du kannst alle zu Bett schicken.«
Il’Sänke schloss die Tür. Sein Lächeln verschwand, als er sich Chane zuwandte.
Bei früheren Konflikten mit Chane hatte Wynn um die Sicherheit von anderen gefürchtet. Das war jetzt anders, als sie il’Sänke beobachtete.
»Tu ihm nichts. Ich … wir brauchen ihn«, flüsterte sie dem Domin zu, weil sie Lauscher im Flur befürchtete.
»Ich nehme an, dies war nicht das Rendezvous eines Liebespaars«, sagte il’Sänke verächtlich. »Und glaub nicht, ich hätte ihn von deinem früheren Ausflug vergessen! Ich habe gewartet, um zu sehen, was ihr beiden anstellt. Mit einer solchen Dummheit habe ich allerdings nicht gerechnet.«
Chane stand einfach nur da, stumm und voller Anspannung.
»Mit dem Stab herumzuspielen und gleichzeitig auch noch mit deiner mantischen Sicht … «, sagte il’Sänke. »Das ist an Dämlichkeit kaum zu überbieten.«
Er schüttelte den Kopf und riss Wynn den Stab aus der Hand.
»Was hat die schwarze Gestalt hierher gelockt?«, fragte er. »Hast du heimlich irgendwelche Übersetzungen in dein Zimmer mitgenommen?«
»Nein«, erwiderte Wynn. Worauf wollte il’Sänke hinaus? Ohne nachzudenken senkte sie den Blick.
Tagebuch und Federkiel lagen jetzt an der gegenüberliegenden Wand, ebenso die Schriftrolle. Zum Glück war während des Durcheinanders niemand daraufgetreten. Wynn erstarrte innerlich, als sie Tinte überall auf den Steinen sah – das kleine Tintenfass war unters Bett gerollt. Glücklicherweise hatte nichts davon die anderen Gegenstände erreicht.
Als Wynn den Kopf wieder hob, war il’Sänke bereits ihrem Blick gefolgt. Er bückte sich, hob die Schriftrolle auf und betrachtete mit gerunzelter Stirn die schwarze Schicht.
»Bin ich deshalb hierhergekommen?«, hauchte er.
»Die Schriftrolle gehört mir.« Chane streckte die Hand danach aus. »Ich nehme sie und gehe.«
»Ich erinnere mich nicht daran, dich weggeschickt zu haben«, sagte il’Sänke und sah Chane nicht einmal an.
Wynn schüttelte stumm den Kopf, woraufhin Chane an Ort und Stelle blieb. Sie stellte fest, dass sich der Ring wieder an seiner linken Hand befand – das war während ihrer mantischen Sicht
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