Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
war sie es gewesen, die ihn gebeten hatte, länger zu bleiben.
Môdhrâfn Adlam, Premin der Naturologie, stand neben Skyion. Durch eine Lücke in der Menge sah il’Sänke, wie sich mehrere in braune Kutten gekleidete Lehrlinge bei ihm versammelten, als suchten sie seinen Schutz.
Ghassan schnaubte.
Môdhrâfns Name bedeutete »stolzer Rabe«. Es war seltsam, dass sich ein numanischer Name auf ein Tier bezog, aber es war nur angemessen beim Oberhaupt der Naturologie – jener Zweig der Gilde beschäftigte sich mit der natürlichen Welt. Aber »hochmütig« wäre eine bessere Übersetzung gewesen, fand Ghassan.
»Wie kamen sie ums Leben?«, fragte der junge Nikolas mit zittriger Stimme.
Ghassan bemerkte ihn erst jetzt. Normalerweise hielt sich Nikolas Columsarn immer im Hintergrund und vermied es, Aufmerksamkeit zu erregen. Meistens saß er mit krummen Schultern in irgendeiner Ecke, wie eine Maus, die die Katze fürchtete. Auch in diesem Fall hatte er still in einer Ecke gehockt, doch jetzt trat er vor die anderen.
Hochturm räusperte sich. »Der Hauptmann der Wache hat gerade erst mit den Ermittlungen begonnen, aber es wurden bislang keine sichtbaren Verletzungen gefunden. Vielleicht sind sie vergiftet worden.«
»Vergiftet?«, ertönte eine laute, helle Stimme.
Nicht nur Furcht erklang in ihr, sondern auch ein Hauch von Verachtung. Ghassans Blick ging zu Wynn.
Sie stand hinter Hochturm auf der linken Seite des Kamins und hatte die Arme um sich geschlungen, als sei ihr kalt.
Domin Hochturm starrte sie an. »Niemand will mehr von deinem Unsinn hören!«
Er versuchte, leise zu sprechen, doch seine Worte hallten trotzdem durch den Gemeinschaftsraum. Wynn straffte die Gestalt und sah Hochturm in die Augen.
»Sie wurden nicht vergiftet«, sagte sie. »Wie auch immer … Ihr Mörder nahm eine Ledertasche mit Texten, die in Meister a’Seatts Laden kopiert wurden. Um welche Texte handelte es sich? Was befand sich in der Tasche?«
»Ihr Tod hat nichts mit ihrer Aufgabe zu tun!«, erwiderte Hochturm scharf. »Irgendein Straßenräuber hat sie überfallen und alles genommen, was er für wertvoll hielt.«
»Ein gewöhnlicher Straßenräuber, der Gift verwendet?«, gab Wynn kühl zurück. »Hältst du das für plausibel?«
Premin Skyion näherte sich Wynn.
»Du bist müde und überspannt, und es ist schon spät.« Sie sah die anderen an. »Alle sollten zu Bett gehen. Hier gibt es nichts mehr zu besprechen.«
Trauer lag in Skyions nussbraunen Augen.
»Heute Abend kam es zu einer großen Tragödie, aber wie Domin Hochturm eben schon andeutete: Vielleicht erfahren wir bald, dass unsere beiden Brüder einem zufälligen Verbrechen zum Opfer fielen.«
Die letzten Initiaten, Lehrlinge und Meister gingen auseinander und verließen den Gemeinschaftsraum in kleinen Gruppen. Einige von ihnen kamen auf ihrem Weg zur Doppeltür an Ghassan vorbei.
Premin Skyion führte Wynn mit sanftem Nachdruck zum Torbogen.
Ghassan hatte mehr als einmal beobachtet, wie die Premin mit Wynns Wahn umging. Sie begegnete ihr mit Anteilnahme und Mitgefühl, während Hochturms Reaktion vor allem aus Ärger bestand. Doch die Methode der Premin brachte Wynn noch mehr in Verruf als die Ablehnung, die ihr von dem Zwerg widerfuhr. Vielleicht hatte Skyion Mitleid mit Wynn, weil sie die junge Frau für geistig verwirrt hielt, nicht geeignet für die Reise zu fernen Ländern, mit der ihr Domin sie beauftragt hatte.
Aber in Ghassan weckte Wynn kein Mitleid.
Sie erfüllte ihn mit Unruhe, vermittelte ihm fast so etwas wie Furcht, und das war sehr ungewöhnlich für ihn.
Wynn kam auf ihn zu, das olivfarbene Gesicht voller Sorge und Enttäuschung. Was wusste sie, und wie viel? Die junge Frau blieb stehen, als sie ihn beim Torbogen bemerkte.
»Du bist nicht einmal hereingekommen?«
»Ich wurde nicht gebraucht.«
»Es sind alles Narren«, flüsterte sie. »Und doch bin ich die Dumme? Sag mir … Wenn man die letzte vernünftige Person in einer Welt des Wahnsinns ist, was macht das aus einem?«
Ghassan wollte keine Zeit mit irgendwelchen intellektuellen Spielereien vergeuden.
»Ist es nicht möglich, dass Elias und Jeremy vergiftet wurden?«, fragte er. »Kannst du das nicht wenigstens einräumen?«
Wynn presste die Lippen zusammen, und Ghassan glaubte schon, dass sie ihn ebenfalls einen Narren nennen wollte. Denn in einer Welt der Narren wurden die Vernünftigen immer Idioten und Verrückte genannt.
»Vielleicht«, sagte sie verärgert.
Ghassan
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