Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Sumanischen Reich an der Westküste. Mir scheint, weitere Niederlassungen sind nicht erforderlich.«
»Nicht hier. Auf dem östlichen Kontinent.«
»Eine weite Reise. Ihr müsst ziemlich lange fort gewesen sein. Und doch seid Ihr jetzt untätig. Schlug das Unternehmen fehl, und seid Ihr daraufhin mit Eurem Mentor zurückgekehrt?«
»Nein, nur ich bin zurückgekehrt. Die anderen setzen die Arbeit fort.«
»Ist das üblich? Die Gründung von Gildenniederlassungen in weit entfernten Ländern?«
»Ich kann mich an kein anderes Projekt dieser Art erinnern.«
»Verstehe«, sagte Rodian.
Sie ritten stumm weiter, bis Wynn die Reste der alten Außenmauer zwischen den Läden und anderen Gebäuden des Wechselwegs bemerkte. Im Lauf der Jahrhunderte, nach der Übernahme des Schlosses durch die Gilde, hatte sich diese Mauer an vielen Stellen geöffnet. Die Stadt hatte sich bis in die Randbereiche des Schlosses ausgebreitet und reichte bis zur Alten Mauerstraße. Sie folgten ihrem Verlauf, vorbei an der immer noch existierenden inneren Mauer des Gildengeländes.
»Wynn!«, donnerte eine Stimme, als sich das Pferd des Hauptmanns dem Tor näherte. Auf der anderen Seite, hinter dem Wachhaus, stand Domin Hochturm mit zwei in Grau gekleideten Lehrlingen. Er schritt über den Weg, und die beiden Lehrlingen beeilten sich nervös, ihm zu folgen.
»Ihr solltet mich hier besser absetzen«, wandte sich Wynn an den Hauptmann.
Er griff nach hinten und gab ihr Halt, als sie vom Rücken der Stute herunterrutschte. Bevor sie sich bei ihm für den Ritt bedanken konnte, war Domin Hochturm heran.
»Zurück in die Gilde mit dir!«, wies er Wynn scharf an, doch sein Zorn galt vor allem dem Hauptmann. »Ich habe Euch gesagt, dass ich keine Vernehmungen dulde, bei denen niemand von uns zugegen ist.«
Wynn hob verwirrt den Kopf. Womit hatte sich Rodian so viel Ärger verdient? Und welche Vernehmung meinte der Domin?
»Bei der Dreieinigkeit, ich danke Euch für Eure Hinweise, Reisende Hygeorht«, sagte der Hauptmann. »Wissen ist immer ein Segen, woher es auch kommt. Vielleicht könnt Ihr mich bei einer besseren Gelegenheit noch mehr lehren.«
Wynn stöhnte innerlich.
Sie verstand seine Anspielung auf eine von mehreren Religionen im Land – man nannte sie die »Gesegnete Dreieinigkeit der Vernunft«. Es war tatsächlich eine der vernünftigsten Religionen, aber Wynn konnte nicht viel damit anfangen. Hauptmann Rodian war ein arroganter, ehrgeiziger Mann, doch für einen Fanatiker hatte sie ihn bisher nicht gehalten.
Als er sein Pferd wendete und über die Straße ritt, überlegte Wynn, was sie ihm alles gesagt hatte.
Sie gewann plötzlich den Eindruck, von ihm benutzt worden zu sein. Aber wofür?
Bei der ersten Kreuzung der Alten Prozessionsstraße hielt Rodian seine Stute an und beobachtete, wie der Zwerg Wynn Hygeorht ins Schloss der Gilde zurückführte. Er holte sein kleines Protokollbuch hervor und las, was er bisher aufgeschrieben hatte.
Was auch immer die Weisen besaßen und unter königlichem Schutz vor den Blick von Außenstehenden verbargen … Inzwischen gab es kaum mehr Zweifel daran, woher es stammte. Besser gesagt: von wem es stammte.
Seit einem halben Jahr wurde übersetzt, hatte Skyion gesagt. Und seit einem halben Jahr war eine gewisse Reisende aus dem fernen Ausland heimgekehrt. Sechs Monde, dachte Rodian. Wenn die Übersetzung so lange dauerte … Wynn schien nicht nur einige wenige Schriftrollen oder ein paar alte Bücher mitgebracht zu haben.
Und das war noch nicht alles. Wynn hatte auch noch etwas anderes mitgebracht, obwohl es die Gilde zu verbergen versuchte: Furcht.
Es spielte keine Rolle, dass die Weisen einen Zusammenhang zwischen der Ermordung der beiden Jungen und dem Inhalt der Ledertasche leugneten. Sosehr sie es auch abstritten: Rodian war davon überzeugt, dass eine Verbindung existierte.
4
Nach einem knappen Abendessen zusammen mit den anderen im Gemeinschaftsraum trug Wynn eine mit leeren Milchflaschen gefüllte Kiste durch den Tunnel des Wachhauses.
Alle Mitglieder der Gilde halfen mit, die täglichen Arbeiten zu erledigen. An diesem Abend hatte Wynn Küchendienst, und jede Aufgabe, die sie vor den starrenden Augen der anderen verbarg, war ihr willkommen. Das Schneiden des Gemüses war besonders unangenehm gewesen, wenn man bedachte, wer für die Zubereitung des Essens zuständig gewesen war. Regina Melliny, Lehrling im Orden der Naturologie, war nicht nur eine hässliche Bohnenstange, sondern
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