Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
kann er mit mir reden, wenn ich mit meinen Ermittlungen fertig bin«, erklang eine tiefe Stimme.
Mit einem Ruck drehte sich Wynn um.
Hauptmann Rodian stand in der Tür des Arbeitsraums.
Wie lange hörte er schon zu? Eigentlich hatte er den Laden erst am Abend aufsuchen sollen, wie mit Meister a’Seatt vereinbart. Rodian durchquerte den Raum, und sein Mantel wischte einige Papiere von einem Tisch, an dem niemand saß.
»Frau Hygeorht, nicht wahr?«, fragte er. »Was macht Ihr hier?«
Am vergangenen Abend, in all ihrem Kummer, hatte sie kaum auf ihn geachtet.
Auf den ersten Blick wirkte der Hauptmann nicht sonderlich beeindruckend. Er war von durchschnittlicher Größe und Statur und trug die typische Kleidung der Shyldfälches, aber der rote Wappenrock unter dem offenen Mantel war sorgfältig gebügelt. Das kurze Haar war dunkelblond, ebenso der etwas dunklere und gut gepflegte Bart. Die hellblauen Augen erschienen Wynn fast zu groß für sein Gesicht.
Sie schluckte und zwang sich zur Ruhe. Der Hauptmann bildete wie Premin Skyion und Domin Hochturm ein weiteres Hindernis auf dem Weg zur Wahrheit.
»Ich frage nach toten Freunden und einer verschwundenen Ledertasche«, antwortete sie. »Verstoße ich damit gegen das Gesetz?«
»Das hängt von den Umständen ab. Und davon, ob Ihr meine Ermittlungen stört.«
Er sah kurz zur jungen Imaret und richtete dann einen argwöhnischen Blick auf Meister Teagan. Angesichts eines weiteren ungebetenen Besuchers schnitt der alte Schreiber eine finstere Miene.
»Ich bitte wegen der Störung um Entschuldigung«, sagte Rodian, doch seine Stimme klang ganz und gar nicht entschuldigend. »Ich komme gerade von der Gilde, und dort war niemand bereit, mir zu sagen, was die Ledertasche enthielt, die Jeremy und Elias bei sich trugen. Vielleicht kann mir einer von euch helfen.«
Er sah wieder Wynn an.
Teagan und Imaret runzelten die Stirn.
»Die Weisen haben Euch nichts über die Texte gesagt?«, fragte Meister Teagan.
»Nein«, erwiderte Rodian, ohne den Blick von Wynn abzuwenden.
Wynn wurde nervös, und ihre Unruhe verwandelte sich schnell in Zorn über die Behandlung, die ihr von dem Hauptmann widerfuhr. Worte platzten aus ihr heraus.
»Selbst wenn es den Schreibern erlaubt wäre, über ihre Arbeit zu sprechen, und das ist nicht der Fall … Nur wenige von ihnen haben genug Erfahrung mit unserem Begaine-Syllabar, um etwas davon zu lesen. Ihnen geht es vor allem um Ästhetik und Präzision des Kopierens. Nur Reisende oder Gildenmitglieder, die einen höheren Rang bekleiden, kennen sich mit diesem Schreibsystem aus, das mehr ist als nur eine standardisierte Buchstabensammlung.«
Meister Teagan achtete nicht auf sie und sprach zu Rodian. »Heute wurde uns nichts von der Gilde gebracht. Ich weiß nicht, was gestern kopiert wurde, und deshalb kann ich zu den Texten nichts sagen. Der Vertrag mit der Gilde verpflichtet uns, nichts über ihre Aufträge verlauten zu lassen. Ihr solltet also besser mit einer gerichtlichen Anordnung kommen, bevor Ihr weitere Fragen stellt, die in diese Richtung zielen. Wie dem auch sei … Derzeit haben wir zu tun. Wenn ich mich recht erinnere, hättet Ihr heute Abend kommen wollen. Meister a’Seatt wird dann für eine … Vernehmung zugegen sein.«
Rodians Blick ging kurz zu Teagan, und ein kurzes Blitzen in seinen Augen verriet Ärger.
Wynn wusste, dass der Hauptmann keinen Schreiber in ihrer Gegenwart vernommen hätte. Warum also war er früher gekommen als mit a’Seatt vereinbart?
Schließlich nickte Rodian Teagan zu und ergriff Wynn an ihrer Schulter.
»Wynn Hygeorht … Bitte kommt mit.«
Er wartete keine Antwort ab und schob die junge Weise vor sich zur Tür, die in den Eingangsraum des Ladens führte. Wynn bedauerte, das Skriptorium in der Gesellschaft des Hauptmanns verlassen zu müssen.
Imaret stand auf, und ihr Stuhl kratzte über den Boden. Die Tränen auf ihren Wangen waren bereits getrocknet.
»Sie hat nur nach Freunden gefragt!«, rief sie und schien der Hysterie nahe zu sein. »Die Weisen sind wie eine Familie! Wenn ich doch nur mehr wüsste oder mich an mehr erinnern könnte! Aber als ich Jeremy sah … «
Die arme Imaret brachte kein weiteres Wort hervor, und Wynn fühlte sich schuldig. Ihr ging es nur darum, was die beiden Jungen getötet hatte. Sie wollte sich erneut dem Mädchen zuwenden, konnte sich jedoch nicht aus dem Griff des Hauptmanns befreien.
»Bitte gib mir Bescheid, wenn dir noch etwas einfällt«, sagte sie
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