Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Fall, wie Wynn wusste. Der beharrliche junge Initiat beugte sich erwartungsvoll vor.
»Was die Zauberei betrifft … «, sagte il’Sänke nach einer kurzen Pause. »Sie ist kaum bekannt, und niemand von uns praktiziert sie, nicht einmal die Metaologen. Sie genießt keinen guten Ruf.«
Das war sehr vorsichtig formuliert, dachte Wynn.
Selbst in der Gilde gab es nur wenige Magier und Anwender niederer Magie. Thaumaturgie galt weithin als akzeptabel, und Beschwörung wurde toleriert, wenn sie sich in Grenzen hielt. Die Zauberei hingegen war gefürchtet und verhasst, und das aus gutem Grund. Die Macht und das Geschick, der Welt und anderen Personen den eigenen Willen aufzuzwingen, hatten im Lauf der Geschichte viele Todesopfer gefordert.
Wynn war einem solchen Zauberer begegnet: Vordana. Zum Glück hatte Leesil ihn endgültig ins Jenseits geschickt.
Sie wandte sich von dem Zimmer ab und setzte ihren Weg fort.
Kurz darauf erreichte sie das Ende des Flurs und betrat dort eine Art Vorraum mit zwei Türen: Eine führte zum Nordturm, die andere zum Ostturm. Beide waren unverschlossen, wenn sich Archivare in den Katakomben aufhielten.
Wynn öffnete eine der beiden Türen und ging im Licht ihrer Kaltlampe die Wendeltreppe hinunter. Der Geruch von Staub empfing sie. Hier unten waren Kerzen, Fackeln und andere offene Flammen verboten. Wer die Katakomben betrat, musste sich von den Archivaren eine Kaltlampe leihen oder eine eigene mitbringen. Und nur die Besucher, die mit einer eigenen Kaltlampe kamen – Reisende oder Gildenmitglieder mit einem höheren Status – , durften das Archiv ohne Aufsicht betreten.
Wie lange war sie schon nicht mehr hier unten gewesen? Ganz gewiss nicht, seit sie vor zwei Jahren mit Domin Tilswith aufgebrochen war. Die meisten Texte von allgemeiner Bedeutung waren kopiert worden und lagerten in der neuen oberen Bibliothek. Nur wenige Gildenmitglieder hatten Grund, hier nach irgendwelchen Dokumenten zu suchen.
Sie nahm die Kaltlampe in die rechte Hand und klemmte sich die anderen Sachen unter den Arm. Mit der linken Hand hob sie den Saum ihres Gewands und ging die Treppe hinab. Bald kam mattes Licht von unten, und nachdem sie die letzte Stufe hinter sich gebracht hatte, betrat sie den großen Hauptkeller.
Trotz der jüngsten Tragödie und all der Enttäuschungen, die Wynn seit ihrer Rückkehr hatte hinnehmen müssen, fühlte sie sich plötzlich wieder wie eine Gelehrte.
Holzregale zogen sich an den Wänden entlang, gefüllt mit dicken, in dunkles Leder gebundenen Büchern und gelegentlichen Pergamentbündeln. Mehrere Tische standen in dem Raum, in dessen vier Ecken Kaltlampen leuchteten. Ein alter Mann in grauem Umhang saß vorgebeugt an einem der Tische und schrieb eifrig, tief in seine Arbeit versunken.
»Domin Tärpodious?«, fragte Wynn und näherte sich.
Der Alte sah auf.
Die trüben Augen über der langen Hakennase blinzelten verwundert, und dadurch bekam sein Erscheinungsbild etwas Krähenhaftes, trotz der bleichen Haut eines Menschen, der kaum nach draußen ging. Das weiße Haar war dünn und licht, die schmalen Hände wie spröde. Doch als er plötzlich aufstand, wirkten seine Bewegungen geschmeidig, und er lächelte, was die Falten in seinem Gesicht verdoppelte. Ganz offensichtlich freute er sich, Wynn wiederzusehen.
»Die junge Hygeorht?«, fragte der alte Archivar und blinzelte erneut. »Bist du das wirklich?«
Jahrelange Arbeit nur im Licht von Kaltlampen hatte seinen Augen geschadet. Das geschah mit allen Katalogisierern, die als Archivare tätig wurden.
»Ja«, bestätigte Wynn. »Ich bin noch einmal gekommen, um dich um Hilfe zu bitten.«
Tärpodious empfing nur selten Besucher, und es war am besten, seinem Sachverstand zu schmeicheln.
Archivare waren seltsame Leute, die die Stille und Einsamkeit der Katakomben sogar ihren Quartieren weiter oben vorzogen. Sie verbrachten die Tage und manchmal auch die Nächte – hier unten gab es keinen Unterschied – damit, jahrhundertealte Texte zu katalogisieren und zu ordnen. Jeder von ihnen wusste, wo sich die Unterlagen befanden, nach denen Gildenmitglieder gelegentlich fragten. Das gehörte einfach dazu, ein Katalogisierer zu sein.
»Ist Tilswith zurückgekehrt?«, fragte Tärpodious mit näselnder Stimme.
Wynn musste vorsichtig sein. Wenn sie seine Hilfe wollte, durfte sie ihm nicht sagen, dass sie den Mörder der beiden jungen Weisen für einen Untoten hielt.
»Nein«, antwortete sie. »Er ist noch in Bela und leitet dort
Weitere Kostenlose Bücher