Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
weitergekommen.
Wynn atmete tief durch, öffnete die Augen wieder und las:
Der Blâch-cheargéa packte den jungen Barden an der Gurgel …
Wynn zog die Hände zurück und las weiter.
Der Barde setzte sich zur Wehr, aber seine Fäuste durchdrangen den Angreifer wie Rauch. Er wurde bleich und starb vor dem ganzen Dorf im Griff von Âthkyensmyotnes …
Wynn erstarrte.
Zwei Worte in der kurzen Geschichte blieben unklar und gehörten nicht zum Dialekt des Erzählers. Blâch-cheargéa bedeutete so viel wie »schwarzer Schreckensgeist«, aber wie konnte ein Geist schwarz sein und einen Menschen an der Gurgel packen? Das andere Wort schien überhaupt keinen Sinn zu ergeben. Âthkyen war ein Kompositum, das im Numanischen nicht mehr verwendet wurde. Wynn hatte es in Berichten über die alten Clans gelesen, die vor den Völkern in diesem Land gelebt hatten. Der Ausdruck bedeutete Herrscher durch heiliges oder angeborenes Recht, nicht durch Abstammung oder Auswahl. Der zweite Teil des Wortes stammte nicht aus dem Numanischen, zumindest aus keinem der Wynn bekannten Dialekte.
Das elfische Stammwort Smiot’an bezog sich auf den »Geist«, aber gemeint war der einer Person und nicht das Element. Die Lhoin’na, die Elfen dieses Kontinents, waren die älteste Kultur weit und breit, so alt, dass einige ihrer Stammwörter – von der Gilde unter dem Begriff »Neuelfisch« zusammengefasst – als Substantive in die Sprache der Menschen Eingang gefunden hatten.
Wynn zog das Buch näher und suchte in dem Text nach weiteren Hinweisen, aber die Geschichte war nur eine halbe Seite lang.
Ein schwarzer Schreckensgeist … Herrscher der Geister?
Er konnte berühren, einen direkten physischen Kontakt herbeiführen. Das musste ein weiterer Aberglaube sein. Selbst wenn diese Geschichte von einem wahren Untoten berichtete – sie konnte durchaus Unsinn enthalten.
Leesil und Magiere hatten eine Vampirin namens Saphir verfolgt, und die Untote war spurlos verschwunden, als sie nur für einen Moment unaufmerksam gewesen waren. Einen Vampir dadurch zu töten, dass man ihm einen Pfahl durchs Herz trieb, erwies sich als weiterer Aberglaube, an den selbst Vampire glaubten.
Die Geschichte in dem Buch ließ Wynns Gedanken zu Meister Shilwises Skriptorium zurückkehren. Jemand hatte den Laden betreten, ohne dabei Gewalt anwenden zu müssen, und anschließend hatte der Unbekannte ausbrechen müssen.
Vielleicht war das Geschöpf in der Geschichte ein Magier, wie Chane oder Welstiel, oder ein Thaumaturg, der die Magie des Physischen benutzte. Ja, einem Vampirmagier stünden viele Jahre zur Verfügung, um seine Fähigkeiten zu verbessern. Vielleicht hatte er gelernt, seine feste Gestalt in eine gasförmige zu verwandeln und so durch einen Türspalt zu kriechen.
Es mochte eine dumme Vorstellung sein, nur dazu geeignet, Kinder zu erschrecken, aber in den letzten zwei Jahren hatte Wynn seltsamere Dinge erlebt. Und es blieb das Rätsel, warum der Unbekannte die Tür zertrümmert hatte, um das Skriptorium wieder zu verlassen.
Wynn nahm den Federkiel und schlug eine neue Seite in ihrem Tagebuch auf. Sie notierte die gelesene Geschichte im Begaine-Syllabar und beschloss, in anderen numanischen Texten nach den Wörtern Blâch-cheargéa und Âthkyensmyotnes zu suchen. Außerdem wäre es vielleicht nützlich, im Archiv nach entsprechenden Elfenschriften Ausschau zu halten.
»Junge Hygeorht!«
Wynn zuckte überraschte zusammen. Domin Tärpodious stand vor der Nische, und sein Gesicht brachte deutliche Missbilligung zum Ausdruck. Verärgert schlurfte er näher.
»Hast du dies alles für Tilswiths Recherchen benötigt?«, fragte er.
Wynn sah sich um.
Papiere und Pergamente bedeckten den Tisch. Einige Blätter waren von den Stapeln gerutscht und lagen auf dem Boden.
»Oh … «, sagte sie. »Tut mir leid. Ich bin so in die Arbeit vertieft gewesen … «
Wynn wusste, dass es keinen Sinn hatte, dem Alten Hilfe beim Aufräumen anzubieten. Damit hätte sie ihn noch mehr verärgert.
Rasch schloss sie das Buch.
»Ich hätte eher kommen und dich zum Abendessen holen sollen.«
Wynn starrte ihn groß an. »Zum Abendessen?«
»Gekocht, gegessen und abgeräumt«, erwiderte Tärpodious mürrisch. »Ein Lehrling hat mir das Essen gebracht. Du solltest besser nach oben gehen und sehen, ob etwas übrig geblieben ist.«
Wynn zögerte. Sie glaubte jetzt, eine Spur zu haben, und es gab noch so viel zu tun.
»Fort mit dir!«, schnauzte Tärpodious und begann damit,
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