Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Nervösen Nikolas, aber er war nicht klein, sondern mittelgroß und schlank. Das »klein« in seinem Spitznamen verdankte er vielleicht dem Umstand, dass er sich immer zu ducken schien. Hinzu kam die ständige Sorge in seinem Gesicht. Er schien sich die ganze Zeit vor irgendetwas zu fürchten, und Wynn fragte sich, ob diese Grundhaltung auf ein traumatisches Erlebnis in seiner Vergangenheit zurückging.
»Komm herein«, sagte sie und wich zurück. »Sag mir, was los ist.«
Nikolas sah nach rechts und links den Flur entlang und trat dann rasch an ihr vorbei.
»Ich … ich … «, stotterte er.
Wynn atmete tief durch und wartete geduldig.
»Ich werde heute Abend losgeschickt, um den Folianten zu holen!«, platzte es aus ihm heraus. »Zusammen mit Miriam und Dâgmund, und die wurden gestern Abend verfolgt!«
Wynn erstarrte ungläubig.
»Domin il’Sänke muss Domin Hochturm erzählt haben, was geschehen ist!«, fuhr Nikolas fort. »Warum also schickt er noch mehr von uns?«
»Beruhig dich, Nikolas«, sagte Wynn.
»Ich will nicht losgehen!«, rief er fast und wimmerte dann: »Aber wenn ich nicht gehe … Dann sieht es aus, als wäre ich ungefällig.«
Mitgefühl vermischte sich mit Wynns Ärger. Lehrlinge wollten auf keinen Fall den Ruf erwerben, »ungefällig« zu sein, was ein anderer Ausdruck für »faul« oder »unfähig« war. Andererseits … Zwei junge Weise waren ermordet und ein Foliant aus einem Skriptorium gestohlen worden; außerdem hatten zwei andere Boten der Gilde berichtet, verfolgt worden zu sein. Trotzdem beharrten Premin Skyion und Domin Hochturm darauf, dass es keinen Zusammenhang mit dem Übersetzungsprojekt gab.
Nikolas sah Wynn hoffnungsvoll an, als hätte sie die Macht, ihn zu retten.
»Ich kann an den Anweisungen unserer Vorgesetzten nichts ändern«, sagte sie bitter. »Und ich kann dich nicht begleiten. Man lässt mich nicht in die Nähe der Übersetzungsarbeit.«
Nikolas schien den Tränen nahe zu sein. Seine Lippen zitterten.
»Aber ich kann etwas tun«, sagte Wynn und kehrte zum Tisch zurück. Sie riss eine leere Seite aus dem Tagebuch, schrieb eine kurze Nachricht und gab sie Nikolas.
Er las:
An Hauptmann Rodian, Kommandeur der Shyldfälches
Zwei Kuriere der Gilde, die gestern Abend mit einem Folianten heimkehrten, glauben, verfolgt worden zu sein. Beide blieben unverletzt, aber wenn heute der Abend dämmert, brechen drei weitere Gildenmitglieder auf. Bitte schickt Männer zu Meister Calisus’ Laden »Feder & Pergament« und sorgt dafür, dass sie sicher heimkehren.
Mit freundlichen Grüßen
Wynn Hygeorht, Reisende
Gilde der Weisen in Calm Seatt, Malourné
»Ich lasse dies von einem Initiaten zum Hauptmann bringen«, sagte Wynn. »Er will keine weiteren Probleme wegen der Folianten. Bestimmt schickt er einige seiner Männer zu eurem Schutz.«
Erleichterung erschien in Nikolas’ braunen Augen. »Danke, Wynn. Aber … was, wenn Domin Hochturm dahinterkommt? Er ist bereits böse auf dich, weil du neulich mit dem Hauptmann heimgekehrt bist.«
»Und wenn schon«, erwiderte Wynn kühl. »Wichtig ist nur, dass ihr drei unversehrt zurückkommt.«
Wenn sie mit ihren Vermutungen richtiglag und der Mörder ein Edler Toter war, konnten Rodians Männer ihn vielleicht nicht aufhalten. Aber der Unbekannte hatte zugeschlagen, als niemand sonst zugegen gewesen war – vielleicht wollte er unbeobachtet bleiben. Die Präsenz von Stadtwächtern hielt ihn möglicherweise zurück – auch ein Vampir ließ sich nicht gern auf einen Kampf gegen mehrere bewaffnete Soldaten ein.
Nikolas senkte den Blick. »Ich hätte selbst daran denken sollen. Elias fiel immer etwas ein. Er wusste, was es zu tun galt.«
Wynn klopfte ihm auf den Arm. »Geh und mach dich bereit. Ich suche einen Initiaten, der dem Hauptmann die Mitteilung bringt.«
Nikolas nickte rasch, und sie verließen beide das Zimmer. Als er über den Hof eilte, wuchs Wynns Ärger auf ihre Vorgesetzten. Gleichzeitig nahm ihre Sorge um die jungen Weisen zu, die an diesem Abend losgeschickt wurden, um einen Folianten abzuholen.
Die Premins und Domins leugneten die Fakten, die sie direkt vor den Augen hatten. Und das ergab jeden Abend weniger Sinn.
Rodian verließ die Kaserne zusammen mit Leutnant Garrogh. Sie wollten in der Schenke »Bei Muttern« zu Abend essen.
Die Frau, auf die sich der Name bezog, hatte längst das Zeitliche gesegnet, und ihr Enkel kümmerte sich um das Lokal. Bei den Soldaten des zweiten Schlosses erfreute es
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