Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Rodian?«
»Natürlich«, schnauzte Rodian. Er erreichte den Initiaten, von Garrogh dichtauf gefolgt.
Der Junge schluckte und reichte ihm den gefalteten Zettel. »Die Reisende Hygeorht hat mich aufgefordert, dies nur Euch zu geben.«
Rodian zögerte, bevor er den Zettel nahm. Warum sollte ihm Wynn eine nur für ihn bestimmte Nachricht schicken? Er entfaltete das Papier, las … und spürte, wie seine Anspannung jäh zunahm.
Die jungen Weisen, die am vergangenen Abend den Folianten geholt hatten, waren verfolgt worden. Dennoch hatte Hochturm eine neue Gruppe losgeschickt.
Rodian wirbelte zum verwirrten Garrogh herum.
»Hol vier Männer und unsere Pferde – los!«
Als Nikolas, Miriam und Dâgmund aufgebrochen waren, hielt es Wynn nicht mehr in ihrem Zimmer aus. Sie meldete sich freiwillig, beim Servieren des Abendessens zu helfen, in der Hoffnung, dass die Zeit dadurch schneller verging. Zweifellos würde der Hauptmann jemanden schicken, um die Kuriere der Gilde zu schützen.
Nach einer Weile glitten ihre Gedanken wieder zum Sonnenkristall. Vielleicht stellte er den einzigen möglichen Schutz vor einem Edlen Toten dar, der es auf Weise und Folianten abgesehen hatte.
Während sie im Gemeinschaftsraum Gemüsesuppe servierte, hielt sie nach Domin il’Sänke Ausschau, aber an diesem Abend zeigte er sich nicht.
»Du hast mich vergessen«, ertönte eine piepsige Stimme.
Wynn senkte den Blick. Eine kleine Initiatin mit Zöpfen sah zu ihr hoch, im sommersprossigen Gesicht eine Mischung aus Gekränktheit und Empörung.
»Tut mir leid«, sagte Wynn. »Hier, das ist für dich.«
Als sie den Teller vor das Mädchen setzte, kam Domin Hochturm aus dem Nebeneingang in den Gemeinschaftsraum, blieb stehen und musterte sie. Wynn verteilte die letzten Teller, die noch auf ihrem Tablett standen, und ging dann an den Tischen entlang.
»Hast du Domin il’Sänke gesehen?«, fragte sie. »Er ist noch nicht zum Essen gekommen.«
Hochturm presste unter seinem dichten Bart die Lippen zusammen. »Er hat das Gebäude vor einer Weile verlassen, und seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Er ist weggegangen? Wann?«
Hochturm kniff die Augen zusammen und schien ihre Worte für eine Frechheit zu halten. »Das Kommen und Gehen eines Domin geht dich nichts an!«
Er stapfte an ihr vorbei zum Kamin des Gemeinschaftsraums, und Wynn glaubte zu spüren, wie der Boden unter seinen Schritten zitterte. Seine scharfe Erwiderung ließ sie unberührt.
Sie sah zum Haupteingang und fragte sich, welchen Grund il’Sänke haben mochte, das Gildenschloss an diesem Abend zu verlassen.
Ghassan il’Sänke stand an der Ecke eines Kurzwarenladens und blickte über die leere Straße, als sich die drei jungen Weisen dem »Feder & Pergament« näherten. Das einzige andere lebende Geschöpf weit und breit war ein Pony, an den Karren vor dem Schreibkontor gebunden.
»Wo sind sie?«, fragte Nikolas zu laut. »Wynn hat versprochen … «
»Das reicht!«, sagte Dâgmund scharf. »Wir können nicht herumstehen und auf die Stadtwache warten. Je eher wir zurückkehren, desto besser.«
Il’Sänke straffte die Schultern und sah die Straße hinauf und hinunter. Wie hatte die Stadtwache von der Abholung des Folianten an diesem Abend erfahren? Von den Shyldfälches war jedenfalls nichts zu sehen.
Erneut drehte sich Nikolas um und blickte in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Hör auf damit!«, quiekte Miriam.
»Seid still«, sagte Dâgmund. »Kommt, wir gehen jetzt hinein.«
Er drückte die Klinke und betrat das Skriptorium. Nikolas stolperte fast über die letzte Stufe, als er rückwärtsging, um weiterhin die Straße zu beobachten. Miriam schob sich an ihm vorbei und verschwand kurz vor ihm im Innern des Schreibkontors.
Il’Sänke blieb an der Ecke stehen und wartete darauf, dass sich die jungen Weisen wieder auf den Weg machten.
Eigentlich brauchte er sich gar nicht zu verbergen. Dâgmund und seine beiden Begleiter hätten ihn nicht einmal dann bemerkt, wenn er direkt vor ihnen gewesen wäre. Niemand konnte ihn bemerken, solange er alle anderen als Erster sah. Und wenn die jungen Weisen zur Gilde zurückkehrten, würde es ihm nicht weiter schwerfallen, ihren Geist zu verwirren oder sie handlungsunfähig zu machen, wenn es notwendig werden sollte. Er würde sich den Inhalt des Folianten vor allen anderen ansehen können.
Und wenn er es für angebracht hielt, würde niemand sonst Gelegenheit erhalten, einen Blick auf die Texte zu werfen.
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