Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
er sich über Jahre hinweg der Völlerei hingegeben hatte. So sehr dem Essen und dem Wein war er zugetan gewesen, dass er ganz rund geworden war und nicht aufstehen und fliehen konnte. Nach dem Besuch des Unheilsboten fand man ihn am nächsten Morgen tot am Tisch, mit einer Hammelkeule im Mund.
Die ganze Geschichte klang nach etwas, das Wynn schon einmal gelesen hatte. Andererseits: Inzwischen klang fast alles wie etwas, das sie schon einmal gelesen hatte. Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Hände. Es reichte ihr inzwischen.
Sie notierte den neuen Begriff in ihrem Tagebuch und machte sich auf den Weg zu ihrem Zimmer. Doch im Hauptflur des Schlosses zögerte sie.
Die neue Bibliothek war nicht weit entfernt.
Wynn eilte durch Gänge und näherte sich dem Haupteingang, der nicht aus einer Tür bestand, sondern aus einem besonders breiten Torbogen, in dessen obersten vier Steine Begaine-Symbole eingemeißelt waren. Sie verkündeten das Kredo der Weisengilde:
Wahrheit durch Wissen … Wissen durch Verständnis … Verständnis durch Wahrheit … Der ewige Kreis der Weisheit.
Wynn betrat die Bibliothek, wanderte an langen Bücherregalen entlang und suchte bei den Lexika, bis sie ein bestimmtes Buch fand. Es war groß und schwer, und mit einem Ächzen trug sie es zum nächsten Tisch. Es dauerte einen Weile, bis sie einen ähnlichen Begriff fand.
Waerth, m. [Ursprung unbekannt; bei frühen südlichen Regionaldialekten gefunden, vor der Bildung der ersten Nationen der Numanischen Länder]. Eine von mehreren möglichen Schreibweisen für den unklaren modernen numanischen Begriff Wrait [Râth].
Wynn blätterte und schlug bei »Wrait« nach.
Eine dunkle oder schwarze Erscheinung, manchmal einer bestimmten Person ähnelnd. In der Volkskunde ein Omen für unmittelbar bevorstehenden Tod. Wird manchmal aber auch nach dem Tod einer Person wahrgenommen.
Wynn klappte das dicke Buch zu. Omen und Menetekel!
Noch mehr abergläubischer Unsinn, der sie einer Antwort auf die Frage, wer die beiden jungen Weisen umgebracht und es auf die Folianten abgesehen hatte, nicht näherbrachte. Sie notierte sich den neuen Begriff und fügte ihm die gerade gelesene Definition hinzu, verließ dann das Archiv und kehrte zu ihrem Zimmer zurück.
Dort schloss sie die Tür und sank aufs Bett. Nach einer Weile kroch sie zum kleinen Fenster und sah hinaus. Irgendwo in der Ferne, jenseits der Schlossmauern, hörte sie acht Glockenschläge: nach dem überall in den Numanischen Ländern verwendeten Zeitsystem der Zwerge das letzte Achtel des Tages, Geuréleâ genannt, »Winter des Tages«. Der Abend rückte näher, und die Arbeit dieses Tages hatte Wynn kaum weitergebracht.
Zorn brannte in ihr, wenn sie daran dachte, dass sie einen Schatz alter Texte mitgebracht hatte, die sie jetzt nicht mehr sehen durfte. Wenn es in diesen Folianten einen roten Faden gab, hätte sie Premin Skyion vielleicht ein Motiv nennen können.
Aber dazu hätte der Premin-Rat eingestehen müssen, dass die Folianten – und das ganze Übersetzungsprojekt – mit den Morden und Diebstählen in Verbindung standen. Andernfalls wäre selbst eine vernünftige Theorie in Hinsicht auf das Motiv des Täters ebenso verächtlich zurückgewiesen worden wie Wynns Geschichten über Dhampire, Vampire, Geister und …
Wynn seufzte, streckte sich wieder auf dem Bett aus, rieb sich die Schläfen und versuchte, die zornige Besessenheit aus ihrem Kopf zu vertreiben. Sie brauchte Ruhe und Klarheit.
Nach einer Weile stand sie auf, ging zum Tisch und sah sich dort ihre Notizen an.
Unsinnige Geschichten über lebende Leichen, die sich von Fleisch ernährten, ersetzten den Zorn durch Übelkeit. Aus irgendeinem Grund fiel Wynn der Sonnenkristall ein, und sie wünschte sich, dass Domin il’Sänke ihn bald fertigstellte.
Die Einrichtung ihres Zimmers hätte kaum schlichter sein können: ein Bett, ein Tisch, eine Kaltlampe, eine kleine Truhe sowie ihre Schreibutensilien. Trotz der Übelkeit wurde sie hungrig, denn seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen.
Ein Klopfen an der Tür ließ Wynn zusammenzucken, und sie dachte: Bitte lass es il’Sänke sein, mit dem fertigen Sonnenkristall . Sie lief zur Tür und öffnete.
Nikolas stand im Flur, das Gesicht bleich.
Wynn war enttäuscht, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. »Was ist los?«
Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, und Wynn vergaß ihre eigenen Sorgen.
Andere nannten ihn den kleinen
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