Dhampir
Anführer des Rudels lief über die offene Lichtung. Sein Blick blieb auf Chap gerichtet, bis er nahe herangekommen war, und dann sah er Wynn an. Nach einigen Sekunden verschwand er zwischen den Zweigen der umgestürzten Birk e – wenigstens hatte er diesmal auf ein missbilligendes Knurren der jungen Weisen gegenüber verzichtet.
Seerose beugte sich erneut vor und beschnüffelte Chap. Er senkte den Kopf. Wie würde sie ihn jetzt sehen?
Ihre warme Zunge strich ihm über die Schnauze. Erleichterung durchströmte ihn, und plötzlich spürte er Müdigkeit.
»Du bist nicht allein, Chap«, flüsterte Wynn. »Du wirst nie allein sein.«
Ein langes, klagendes Heulen kam von der umgestürzten Birke.
Chap hob den Kopf und sah zusammen mit Seerose und Wynn dorthin, wo das Oberhaupt des Rudels ins Dickicht aus Zweigen gekrochen war. Beim Eintreffen des Rudels waren drei Majay-hì Seerose und Wynn gefolgt.
Doch nur zwei waren wieder zum Vorschein gekommen.
13
Chane ritt an einem schroffen Felsvorsprung vorbei. Nacht für Nacht folgte er Welstiel nach Südosten in die Kronenberge, und dabei folgten sie dem Weg, den ihnen das alte Móndyalítko-Paar beschrieben hatte. Er rechnete jeden Augenblick damit, dass die Pferde unter ihnen zusammenbrachen.
Mit jeder verstreichenden Nacht wurden die Tiere langsamer. Welstiel schien nichts davon zu bemerken und trieb sie schonungslos an.
An einigen Abenden waren sie in ihrem Zelt erwacht und von Schnee umgeben gewesen. Chane grub sie aus, aber einmal war so viel Schnee gefallen, dass sie die Nacht im Zelt verbringen mussten. Das war alles andere als erfreulich gewesen, denn jeder Tag, den sie verloren, machte Welstiel nervös und verschlechterte seine Laune.
An diesem Abend war es kalt, aber es wehte kein Wind. Chane zügelte sein Pferd, als Welstiel plötzlich anhielt und zu den Sternen hochsah.
»Wie lange noch?«, fragte Chane.
Welstiel schüttelte den Kopf. »Bis wir eine Schlucht sehen. Was hat die Frau gesagt? ›Wie ein Riss im Berg‹?«
»Ja«, sagte Chane.
Meistens wirkte Welstiel tief in Gedanken versunken. Das letzte Mal hatte Chane ihn im Schlaf sprechen hören, als er an jenem Morgen schreiend aufgewacht war. Seitdem schien Welstiel nicht mehr so oft zu träumen. Außerdem achtete er inzwischen weniger auf sein Äußeres. Das dunkle Haar hing ihm strähnig in die Stirn, und sein guter Mantel war schmutzig und zerfranst. Chane wusste, dass er selbst nicht besser aussah.
»Ich sollte nach einer geeigneten Stelle für das Zelt suchen«, sagte er.
Welstiel starrte nur gen Himmel.
Chane ritt weiter und hielt nach einem geschützten Platz Ausschau. Er empfand es als Erleichterung, eine Weile allein zu sei n – Welstiel schien allmählich den Verstand zu verlieren.
Sein geistiger Zustand verschlechterte sich immer mehr, obwohl er manchmal so klar war wie bei ihrer ersten Begegnung. Die numanischen Lektionen vertrieben ihnen die Zeit, hielten nervöse Anspannung von ihnen fern und verhinderten, dass sich Welstiel wieder in seiner Innenwelt verlor. Inzwischen konnte Chane ganze Sätze in Wynns Muttersprache formulieren.
Welstiel hatte dafür gesorgt, dass sie nicht verhungerten, aber die Nahrungsaufnahme mit seiner seltsamen Methode war alles andere als befriedigend. Chane verstand nicht, wie sich ein Edler Toter mit einer so faden und unangenehmen Nahrungsaufnahme begnügen konnte.
Er stieg ab, kletterte über den Hang und näherte sich einem Felsvorsprung, über dem der Berg steil anstieg. Dort konnten sie den Tag verbringen. Er würde die Planen vor und zu beiden Seiten des Felsens anbringen und sie unten beschweren. Kein Zelt, sondern ein Quartier, das mehr Platz bo t – ein richtiger Luxus. Er machte sich daran, die zusammengerollten Planen vom Rücken seines Pferdes zu lösen.
Etwas veranlasste Chane, innezuhalten und den Blick über die Tannen streichen zu lassen. Er lauschte in die Nacht hinein, hörte aber nur die Stimme des Windes, die in den Zweigen flüsterte. Es behagte ihm ganz und gar nicht, einen weiteren Tag eingeschlossen mit Welstiel verbringen zu müssen, versteckt vor der Sonne. Und dem Tag würde eine kalte Nacht auf dem Rücken eines noch müderen und schwächeren Pferdes folgen.
Chane schloss die Augen und ließ für einen Moment die eigenen Gedanken treiben.
In Malourné, auf der anderen Seite des westlichen Ozeans, lag der Gründungsort der Weisengilde. Gelehrte Männer und Frauen, in hellgraue Umhänge gekleidet, schritten dort durch
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