Dhampir
alte steinerne Flure. Chane versuchte, sich ihre Bibliotheken und Archive vorzustellen, Tische voller Schriftrollen, Pergamente und Bücher, und das auf sie fallende Licht stammte von Kaltlampen-Kristallen.
Er sah sich selbst an jenem Ort.
Das rotbraune Haar sauber und hinter die Ohren gekämmt, las er ein altes Pergament. Es war keine Kopie, sondern das Original, uralt und einzigartig.
Der vertraute Geruch von Pfefferminztee stieg ihm in die Nase, und als er den Kopf hob, sah er Wynn, die sich ihm mit einem Tablett näherte. Ihr sanftes Lächeln galt allein ihm. Das Haar trug sie zu einem Zopf geflochten, der ihr über den Rücken reichte, und im Licht der Kristalle schien ihre olivfarbene Haut zu glühen.
Sie stellte das Tablett mit den beiden dampfenden Tassen ab. Chane wollte das Lächeln erwidern, war aber nicht dazu imstande. Wynn streckte die Hand aus und berührte seine Wange. Die Wärme ihrer Finger ließ ihn erschauern. Sie setzte sich neben ihn und stellte Fragen, während sie auf das Pergament sah. Die ganze Nacht sprachen sie miteinander, bis Wynns Lider immer schwerer wurden. In jenem stillen Moment beobachtete er die schlafende junge Weise und stellte sich vor, wie er sie in ihr Zimmer trug.
Chanes Pferd wieherte laut. Ein Knurren folgte, und Chane öffnete die Auge n – das Traumbild von Wynn verschwand.
Weiter unten am Hang erschienen wilde Hunde zwischen den Bäumen und näherten sich. Er war so sehr in seinem Wachtraum versunken gewesen, dass er sie nicht gehört und auch nicht gerochen hatte.
Sechs Hunde waren es, und ihre Blicke galten ihm und dem Pferd. Sie knurrten, als sie wachsam näher schlichen.
Die meisten waren schwarz, mit braunen und schiefergrauen Stellen im Fell. Aber hier und dort zeigte sich auch nackte Hau t – die Tiere waren halb verhungert und so mager, dass sich ihre Rippen abzeichneten. Ihre gelben Augen starrten gierig.
Das Pferd warf den Kopf hin und her und wich zurück. Steine lösten sich unter seinen Hufen und rollten den Hang hinab.
Chane ergriff die Zügel und langte über den Sattel hinweg nach seinem Schwert. Er fragte sich, wie die Hunde so hoch in den Bergen überlebt hatte n – hier gab es für sie kaum etwas zu fressen. Seine Hand schloss sich um den Griff des Schwerts, und im gleichen Augenblick sprangen die beiden nächsten Hunde vor und schnappten nach den Beinen des sich aufbäumenden Pferdes. Chane wich zurück.
Der erste Hund versuchte, die Schulter des Pferdes zu erreichen und die Zähne hineinzubohren, während der zweite es weiterhin auf die Beine abgesehen hatte. Das Pferd wieherte und trat mit den Vorderläufen. Chane wollte gerade mit dem Schwert nach den beiden Angreifern ausholen, als er hinter sich ein Knurren hörte.
Er drehte sich um und sah einen dritten abgemagerten Hund mitten im Sprung. Ein schneller Schritt brachte ihn zur Seite, und er schlug mit dem Schwert zu.
Die Klinge traf den Hals und durchtrennte ihn halb.
Das Tier fiel zu Boden, rutschte den Hang hinab und hinterließ eine breite Blutspur. Ein weiterer Hund prallte gegen Chanes Rücken, und der stürzte mit dem Gesicht nach unten.
Er fühlte Zähne im Nacken und hörte, wie sein Pferd erneut wieherte.
Chane ließ das Schwert los und rollte herum, sodass der Hund unter seinem Rücken lag. Doch das Tier ließ nicht los. Chane fühlte, wie seine Haut aufriss, als er mit dem Ellenbogen zustieß. Rippen knackten, und der Hund jaulte. Chane kam auf die Knie, hielt den Kopf des hungrigen Angreifers fest und zerschmetterte ihn mit einem Fausthieb.
Sein Pferd lag am Boden, und vier Hunde hatten sich darangemacht, es zu zerfleischen. Aus dem wiehernden Geschrei war ein Winseln geworden.
Plötzlich verharrten die Hunde und gaben keinen Ton mehr von sich. Alle vier zugleich hoben die Schnauzen.
Welstiel stand hinter ihnen, die Zügel seines Pferdes in der einen Hand. In ungläubigem Erstaunen blickte er auf Chane hinab.
»Warum hast du sie nicht aufgehalten, anstatt dich wie ein tollwütiger Köter im Dreck zu wälzen?«, fragte er.
»Ich wollte sie aufhalten.« Chanes Stimme war ein leises Zischen. »Aber ich konnte sie nicht alle gleichzeitig erledigen.«
»Du bist ein Edler Toter«, sagte Welstiel voller Abscheu. »Du kannst solche Geschöpfe mit einem Gedanken kontrollieren.«
Chane blinzelte. »Diese Fähigkeit besitze ich nicht. Toret hat mir erzählt, dass unsere Art verschiedene Talente entwickel t – mit der Zeit. Diese besondere Fertigkeit fehlt
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