Dhampir
neben ihr, das Gesicht maskenhaft starr. Die Covârleasa kannte ihn besser, als er ahnte. Die jüngsten Ereignisse hatten ein großes Durcheinander in ihm geschaffen. Der vergangene Tag war der schlimmste in seinem Leben gewesen; er fühlte sich zutiefst gedemütigt.
»Ja, Tochter«, bestätigte der Älteste Vater. »Cuirin’nên’a hat genug Zeit in Gefangenschaft verbracht. Ich habe sie freigelassen.«
»Warum?«
Ärger erklang in der Stimme des Ältesten Vaters, als er erwiderte: »Stellst du meine Entscheidung infrage?«
»Nein, Vater«, sagte Fréthfâre schnell.
Etwas stimmte nicht. Brot’ân’duivé hatte eine private Audienz verlangt, und jetzt war die Verräterin frei.
»Ist das alles, Vater?«, fragte Sgäilsheilleache. »Brauchst du etwas?«
Fréthfâre fragte sich, wie er dies so ruhig hinnehmen konnte, als wäre es Teil eines ganz normalen Tages. Sgäilsheilleache stellte nur selten etwas infrage, es sei denn, er wurde mit Unerwartetem konfrontiert. Und dies kam zweifellos unerwartet.
Der Älteste Vater sah zu Sgäilsheilleache hoch, und die Strenge wich aus seinem faltigen Gesicht. »Nein, mein Sohn. Geh nur und ruh dich aus. Wir alle brauchen Ruhe.«
Ganz offensichtlich gab der Älteste Vater Sgäilsheilleache keine Schuld am Ausgang dieses Tages. Warum sollte er? Die Schuld lag allein bei Brot’ân’duivé, und früher oder später würde Fréthfâre einen Beweis dafür finden. Ein Greismasg’äh hatte seine Kaste verrate n – so etwas durfte man nicht einfach hinnehmen.
Sgäilsheilleache drehte sich um und ging, aber Fréthfâre konnte sich nicht dazu durchringen, ihm zu folgen.
»Verzeih mir, Vater, aber was bedeutet dies? Soll ich Cuirin’nên’a Bescheid geben?«
Der Greis schüttelte den Kopf. »Ich nehme an, Brot’ân’duivé wird noch in dieser Nacht zu ihr gehen, begleitet von Léshil.«
In der Kammer schien es dunkler zu werden, als Fréthfâre versuchte, die Worte des Ältesten Vaters zu verstehen. Nichts ergab einen Sinn.
»Geh jetzt, Tochter«, sagte er.
Tief in Gedanken versunken stieg sie die Treppe hoch, lief nach draußen und hielt erst inne, als sie die Ulme erreichte, in der Léshil und die Menschen untergebracht waren. Noch bevor sie den Eingang erreichte, wusste sie, dass der Wohnbaum leer war. Trotzdem warf sie einen Blick hinein.
Niemand da. Vermutlich waren sie alle auf dem Weg zu Cuirin’nên’a.
Fréthfâre stand da und überlegte. Warum hatte der Älteste Vater sie zu sich gerufen, um ihr dies mitzuteilen? Er war erschöpft, und wenn es für sie nichts zu tun ga b … Warum hatte es dann nicht bis zum nächsten Morgen warten können? Warum eine solche Dringlichkeit, gefolgt von so wenigen Erklärungen?
Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Der Älteste Vater hatte ihr etwas mitteilen wolle n – ohne es mit Worten auszudrücken. Aus irgendeinem Grund war er nicht imstande gewesen, ihr einen direkten Befehl zu geben.
Es brodelte in ihr beim Gedanken an Léshil, seine verräterische Mutter und die Menschen. Sie durften nicht entkommen, nachdem sie einen Weg in dieses Land gefunden hatten. Nicht nach all den Konflikten, zu denen es ihretwegen in der Kaste gekommen war. Und nicht nach dem, was sie dem Ältesten Vater angetan hatten.
Seit vielen Jahren stand Fréthfâre an seiner Seite. Seit Jahrzehnten. Was auch immer der Grund sein mochte, der ihn daran hinderte, sein Anliegen offen vorzutrage n – Fréthfâre wusste, was er von ihr erwartete.
Sie lief zum Fluss und den Anlegestellen. Die Dunkelheit der Nacht machte die Bäume zu schnell an ihr vorbeihuschenden Schemen. Zur sechsten Birke stromaufwärts eilte sie, sank vor ihr auf die Knie und schob den Eingangsvorhang beiseite.
Én’nish saß allein auf dem Boden. Die Tasse Tee musste schon seit einer ganzen Weile vor ihr stehen, denn sie dampfte nicht mehr. Die Elfe hatte ins Leere gestarrt und drehte ruckartig den Kopf.
»Fréthfâre?«, kam es überrascht von ihren Lippen. »Was ist los?«
»Wir müssen sofort nach Norden. Brot’ân’duivé ist mit Léshil und den Menschen aufgebrochen, um Cuirin’nên’a zu befreien. Wir müssen sie aufhalten.« Fréthfâre zögerte kurz, bevor sie hinzufügte: »Es ist der Wunsch des Ältesten Vaters.«
Voller Eifer verknotete Én’nish die Zipfel ihres Mantels an der Taille, doch dann verharrte sie unsicher.
»Ich verstehe nicht, Covârleasa«, sagte sie respektvoll. »Wenn der Greismasg’äh bei ihnen weil t … Warum schickt der
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