Dhampir
Eiche waren länger und reichten weiter als alle anderen im Land.
Weise in der Art von Bäumen wandelte der Älteste Vater nicht mehr inmitten seiner Artgenossen. Den Bemühungen des Waldes verdankte er, dass sein verdorrter, verwelkter Leib am Leben festhielt. Er blieb Gründer und Oberhaupt der Anmaglâhk, und sie waren die Wächter der An’Cróan, Jene des Blutes, wie sich die Angehörigen seines Volkes nannten.
Durch die tiefen Wurzeln der Eiche reichte sein Bewusstsein in den Wald, wanderte durch das Land und beobachtete alles. Wenn »Wortholz«-Stücke von dieser Eiche an andere lebende Bäume gehalten wurden, konnte er mit seinen Anmaglâhk auch in fernen Ländern sprechen.
Jetzt wartete er unter der Erde in seiner Wurzelkammer. Er wartete auf die Dienerin, die sein größtes Vertrauen genoss: Fréthfâre, Hüterin des Walde s – sie wurde ihrem Namen gerecht. Aoishenis-Ahâre fühlte ihre Nähe, als sie oben, in Bodenhöhe, die Vorhänge am Eingang beiseiteschob.
»Vater?«, rief sie. »Darf ich zu dir kommen?«
Alle Anmaglâhk nannten ihn Vater, denn sie waren die Kinder seiner Vision und Kraft.
»Komm«, antwortete er mit schwacher Stimme. »Ich bin wach.«
Sie schritt leise wie eine Drossel, aber er hörte sie trotzdem, als sie die Treppe herunterkam, deren Stufen ins lebendige Holz der Eiche geschnitzt waren. Kurz darauf erreichte sie den Hohlraum bei der Herz-Wurzel und erschien in der Öffnung seines Ruheplatzes.
Sie hatte die Kapuze ihres graugrünen Mantels zurückgestrichen, wodurch das weizenblonde Haar zum Vorschein kam. Die meisten Angehörigen seines Volkes hatten glattes Haar, aber bei Fréthfâre fiel es wellig auf die Schultern, wenn sie es nicht im Nacken zusammenband. Heute trug sie es offen und hinter die langen spitzen Ohren gesteckt.
Die großen bernsteinfarbenen Augen waren andeutungsweise zusammengekniffen, und die Lippen bildeten eine dünne Linie. Fréthfâre war schlank, aber im Vergleich mit den anderen nicht besonders groß. Als Covârleasa, vertraute Beraterin, genoss sie hohes Ansehen bei den Anmaglâhk.
»Geht es dir gut?«, fragte sie. Fréthfâre war immer um sein Wohlergehen besorgt.
Der Älteste Vater hob eine schwache, knochige Hand und deutete auf die Kissen in der Nähe.
»Ja. Setz dich.«
Fréthfâre nahm Platz und kreuzte die Beine. »Gibt es Hinweise auf die menschlichen Eindringlinge? Hat Sgäilsheilleache von sich hören lassen?«
»Nein, aber die Menschen kommen. Sgäilsheilleache wird Léshil zu uns bringen.«
Der Älteste Vater hatte Sgäilsheilleache, Weidenschatten, mit einer kleinen Gruppe Anmaglâhk losgeschickt, damit sie Léshil abfingen, bevor der Abscheuliche ihr Land ohne Eskorte betrat. Aber es gab wichtigere Dinge zu besprechen.
»Du wirst mir dabei helfen, Léshil ein Angebot zu unterbreiten«, sagte der Älteste Vater. »Eins, von dem niemand sonst erfahren soll.«
Fréthfâre wölbte ihre fedrigen Brauen. »Natürlich, Vater, aber welche Abmachung könntest du mit einem solchen Geschöpf treffen? Er ist keiner von uns. Verschmutztes Blut fließt in seinen Adern.«
Der Älteste Vater lächelte, und daraufhin erschien Wärme in Fréthfâres Augen. Sie sah ihn nie als die welke Hülle, die er war. Nie ließ sie sich vom trockenen, zu dünnen weißen Haar oder der schrumpeligen Haut über seinen langen Knochen stören.
»Das stimmt«, räumte er ein. »Léshil hat auch menschliches Blut, und den Menschen darf man nicht trauen. Aber er kommt wegen seiner verräterischen Mutter Cuirin’nên’a, und aus diesem Grund gebe ich ihm sicheres Geleit. Cuirin’nên’a kann bei ihrem Verrat nicht allein gehandelt haben, und wir müssen die Mitverschwörer finden. Für seine Hilfe werden wir Léshil alles versprechen, auch seine Mutter. Mit einem solchen Angebot sichern wir uns seine Treue, solange wir sie brauchen.«
Cuirin’nên’as Verrat war für den Ältesten Vater wie ein Schmerz tief in der Brust. Letztendlich hatte sie nichts gewonnen. Nach all den Jahren war Darmouth tot, und die von ihm beherrschte Provinz würde auseinanderbreche n – die anderen Kriegsherrn würden bei dem Versuch, sie unter ihre Kontrolle zu bringen, übereinander herfallen.
Seit der Gründung ihrer Kaste vor langer Zeit achtete das Volk die Dienste der Anmaglâhk. Cuirin’nên’a hatte bei ihrer Kaste die Saat von Zweifel und Täuschung ausgebracht. Diese Saat musste ausgemerzt werden, bevor sie sich ausbreiten konnte, selbst unter den Ältesten der
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