Diabolos (German Edition)
die untere Luke hervor, die unter das Rost führt, dorthin, wo die Asche in einen Auffangbehälter fällt. Neben der elektronisch gesteuerten Bedienung der Öfen gibt es, für den Fall, dass diese ausfällt, eine mechanische. Ich sehe die verschiedenen Räder und Knöpfe durch und erinnere mich, wie die Gaszufuhr zu starten war. Es ist verriegelt. Verriegelt, weil die Luken offen stehen. Ich messe per Augenmaß den Abstand vom Rost zur Apparatur. Dann mache ich mich bereit. Ich lege mich auf die Bahre, nehme das Beil mit und ziehe mich in den Ofen hinein. Dort liege ich und überlege, ob ich es wirklich will. Mein Hals schnürt sich zusammen und Tränen bahnen sich einen Weg. Ich bin aufgewühlt und entschlossen zugleich. Ich streichele mein Baby. Lass dir Zeit, beruhige ich mich. Überhaste nichts, Laura. Ich erinnere mich an viele schöne Dinge in meinem Leben, an meine Kindheit, meine Jugend, an meine Zeit als Mutter. Schade, dass ich nicht an Gott glaube, denke ich und muss einen Augenblick später hässlich auflachen.
»Karsten, ich hoffe, wir werden uns wiedersehen. Irgendwann. An einem anderen Ort. Hadegede-el.«
Ich schluchze, als ich ihn mir vorstelle, wie er mir seine Liebesbekundungen soufflierte und dann immer etwas schief lächelte.
»Lisa, meine kleine Lisa. Ich bin dir so unendlich dankbar, dass du dir mich als Mutter ausgesucht hast. Von meiner ganzen Lebenszeit war die mit dir die schönste. Ich liebe dich. Wir sehen uns wieder, ja?« Ich unterbreche mich häufig, weil mir die Stimme versagt. Dann greife ich nach der Luke und ziehe sie zu mir heran. Ich zögere. Soweit ich mich erinnere, lässt sich die Luke, sobald sie einmal verriegelt ist, nur noch von außen entsperren. Wenn ich sie jetzt zuziehe, gibt es kein Zurück. Ich presse die Augen fest zusammen, atme stoßweise. Hektisch und mit einem Ruck ziehe ich die Luke zu. Ich atme langsam aus. Mir kommt es nun enger vor als vorher. Ich drehe mich auf die Seite und suche nach dem Gasregler, sehe ihn. 1400 Grad. Herr Pauli und seine Kennzahlen. Wie fühlen sich 1400 Grad an, wenn sie unter einem hervorgeschossen kommen? Ich habe unsagbare Angst, aber nun gibt es kein Zurück mehr.
»Es ist das Beste für uns zwei«, spreche ich meinem ungeborenen Baby gut zu. »Mama will dir nicht weh tun, aber es muss sein. Es dauert auch nicht lange, versprochen.«
Ich habe Schlaftabletten dabei. Soll ich sie nehmen? Die Versuchung ist groß. Ich verfluche mich, dass ich sie mitgenommen habe. Ich drehe mich und hole sie aus der Innentasche meiner Jacke. Nach einer Tablette bin ich immer sofort eingeschlafen. Ich habe vier davon. Ich hole sie nacheinander aus der Packung und lege sie mir in die Hand. Ich starre sie an und starre sie an. Dann neige ich meine Hand, nur ein kleines Stück und sie fallen durch das Rost in den Auffangbehälter unter mir. Unerreichbar. Die Vorstellung, ich könnte an den Schlaftabletten sterben und dann … zurückkommen, nimmt mir die Angst vor den bevorstehenden Schmerzen.
»Theoretisch könnten sie den Ofen von innen anzünden, wenn sie ein Feuerzeug dabei hätten. Aber welcher Tote hat schon ein Feuerzeug dabei.« Herr Pauli lachte glucksend über seinen Witz.
Hoffentlich hatte er damals Recht. Ich hole ein Feuerzeug hervor und betrachte es. Es sieht so harmlos aus. Ich habe es aus der Küchenschublade. Das letzte Mal hatte ich Kerzen damit angezündet. Zweiter Advent. Ich nehme das Beil und drehe mich wieder auf die andere Seite. Fixiere den Gasregler, wische mir den Schweiß von der Hand und versuche den Regler mit dem Beil umzulegen. Wenn mir jetzt das Beil aus der Hand fällt, wenn mir jetzt das Beil aus der Hand fällt, denke ich unentwegt. Ich erreiche den Regler. Vorsichtig stoße ich ihn an. Es reicht noch nicht. Etwas kräftiger. Er hat sich bewegt, aber ich höre kein Zischen und rieche auch kein Gas.
Der Gastank ist leer!, denke ich und beginne sofort zu schwitzen. Hektisch schlage ich kräftiger auf den Regler ein, er kippt und … ich höre ein Zischen. Ich drehe mich wieder um, lege mich, das Beil neben mir, auf den Rücken und drücke mir sanft auf den Bauch. Es ist schön zu wissen, dass man nicht alleine ist.
»Entschuldige«, sage ich und fast versagt mir die Stimme.
»Das Gas muss erst einige Zeit strömen, damit der Ofen schnell die richtige Temperatur erreicht«, hatte Herr Pauli damals gesagt.
Damals, als die Welt noch in Ordnung war. Ich lege meinen Daumen auf das Rädchen am Feuerzeug.
»Oh, bitte, bitte,
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