Diabolus
möglich war, hatte sie unmittelbar vor Augen: Der TRANSLTR biss sich an dem Algorithmus seit vielen Stunden die Zähne aus. Susan dachte an Strathmore, der wacker die Verantwortung trug und mit kühler Überlegung tat, was angesichts der Katastrophe getan werden musste. Manchmal glaubte Susan, in Strathmore David wieder zu erkennen. Die beiden hatten eine ganze Reihe von gemeinsamen Eigenschaften: Intelligenz, Zähigkeit, Engagement. Manchmal hatte sie den Eindruck, Strathmore wäre ohne sie verloren. Ihre unverbrüchliche Liebe zur Kryptographie schien für ihn ein Quell des Lebensmuts zu sein, der ihn das ewige Einerlei des politischen Tagesgeschäfts überstehen ließ und die Erinnerung an seine Jahre als Codeknacker in ihm wach hielt. Susan brauchte Strathmore nicht minder. In einer Welt machtgieriger Männer war er ihr Rückhalt, ihr Beschützer, der Förderer ihrer Karriere und der Erfüllungsgehilfe ihrer Träume, wie er oft scherzhaft bemerkte. Und ganz so Unrecht hat er damit ja nicht, dachte Susan. Schließlich hatte Strathmore, natürlich ganz ohne jede Absicht, den schicksalsträchtigen Anruf getätigt, durch den David an jenem Nachmittag bei der NSA aufgetaucht war. Susans Gedanken flogen zurück zu David. Ihr Blick wanderte unwillkürlich zu dem kleinen Fax, das sie mit Tesafilm in die Lade für ihr Keyboard geklebt hatte. Seit sieben Monaten prangte es schon da. Es war der einzige Code, den Susan Fletcher bislang noch nicht zu knacken vermocht hatte. Das Fax war von David. Sie las es zum fünfhundertsten Mal:
NIMM BITTE DIESES KLEINE FAX
ICH LIEBE DICH
GANZ OHNE WACHS
DAVID
Er hatte ihr das Fax nach einer kleinen Meinungsverschiedenheit geschickt. Seit Monaten schon lag sie ihm in den Ohren, er möge ihr verraten, was es bedeute, aber er hatte sich nicht erweichen lassen. Ohne Wachs. Es war Davids kleine Rache. Susan hatte ihm eine ganze Menge über die Kunst des Dechiffrierens beigebracht. Um ihn auf Trab zu halten, hatte sie angefangen, alle schriftlichen Mitteilungen mit einem leichten Code zu verschlüsseln. Ob Einkaufsliste oder Zettelchen mit Liebesgeflüster - alles war codiert. Es war ein Spiel, das David zu einem recht guten Kryptographen gemacht hatte. Dann hatte er angefangen, sich zu revanchieren und alle seine Mitteilungen mit »Ohne Wachs, David« zu unterschreiben. Susan hatte inzwischen über zwei Dutzend Zettel von David, die alle auf diese Weise gezeichnet waren. Ohne Wachs. Susan hatte David angefleht, ihr den geheimen Sinn zu verraten, aber er schwieg beharrlich. Jedes mal, wenn sie davon anfing, lächelte er nur und sagte:
»Die Kryptographin bist doch du!« Die Chefkryptographin der NSA hatte alles versucht - Substitutionschiffren, Zahlenquadrate, sogar Anagramme. Sie hatte ihrem Computer den Befehl gegeben, die Buchstaben zu neuen Wörtern anzuordnen, aber außer dem wenig aufschlussreichen »HANS WOCHE« war nichts dabei herausgekommen. Anscheinend war Ensei Tankado doch nicht der einzige Mensch auf der Welt, der einen undechiffrierbaren Code schreiben konnte. Das Zischen des pneumatischen Türmechanismus riss Susan aus ihren Gedanken. Commander Strathmore kam hereingeschritten.
»Gibt's schon was Neues, Susan?«, rief er. Strathmore bemerkte Greg Hale und blieb abrupt stehen.
»Einen schönen guten Abend, Mr Hale«, sagte er und legte die Stirn in Falten.
»Voller Einsatz, auch am Samstag! Was verschafft uns die Ehre?« Hale grinste unschuldig zurück.
»Wer viel verdient, muss auch viel arbeiten.«
»Verstehe«, grunzte Strathmore, der offenbar nicht wusste, wie er reagieren sollte - doch auch er schien Hale in Ruhe lassen zu wollen. Er wandte sich an Susan.
»Miss Fletcher«, sagte er eher beiläufig, »ich möchte Sie einen Augenblick sprechen. Aber draußen.« Susan zögerte.
»Äh, jawohl, Sir.« Sie schaute beklommen auf ihren Monitor und dann hinüber zu Greg Hale.
»Einen Moment noch, bitte.« Sie tippte auf ein paar Tasten und lud das ScreenLock-Programm, das ihre Dateien vor fremdem Zugriff schützte. Sämtliche Terminals in Node 3 waren damit ausgerüstet. Da die Terminals rund um die Uhr liefen, konnten die Kryptographen mit ScreenLock dafür sorgen, dass sich niemand während ihrer Abwesenheit an ihren Dateien zu schaffen machte. Susan gab ihren Zugriffscode ein. Der Bildschirm wurde schwarz. Er würde dunkel bleiben, bis sie wieder zurückkam und erneut die richtige Zahlenfolge eintippte. Sie schlüpfte in die Schuhe und
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