Diagnose zur Daemmerung
Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete sie, wie vor dem Fenster die Laternenmasten vorbeizogen; aus ihrer Perspektive standen sie allerdings auf dem Kopf. Ich überwachte ihre Atmung und umklammerte ihr Handgelenk, um jederzeit Stärke und Tempo ihres Pulsschlags spüren zu können.
Endlich erreichten wir die Krankenwagenzufahrt, und Luz sprang aus dem Wagen. »Ich gehe mit ihr rein, ihr beiden haut besser ab.«
Zweifelnd blickte ich zu Ti. Da er nur mit den Schultern zuckte, fragte ich Luz: »Bist du sicher?«
»Die Nacht ist erst halb rum. Ich kann sie reinbringen und eventuelle Fragen beantworten – oder verhindern, dass welche gestellt werden.« Durch ein knappes Nicken gab sie mir zu verstehen, was sie als Vampir mit ihrem Geist alles anstellen konnte.
»Ist das für dich okay, Catrina?«
Erst als sie nickte, übergab ich sie an Luz, die den schlaffen Körper mühelos aufhob, während Catrina selbst vor Schmerzen stöhnte. Sobald sie in Luz’ Armen lag, blickte sie zu der Vampirin hoch und fragte: »Morgen wirst du doch wieder auf die Suche gehen, oder?«
Luz schenkte ihr ein trauriges Lächeln. »Aber natürlich.«
Ti fuhr mich nach Hause. Ich wusste nicht, was ich zu ihm sagen sollte. Erst als er den Motor abstellte, fragte ich: »Möchtet du bei mir übernachten? Du kannst auf der Couch schlafen.«
»Gerne.« Während er noch aus dem Wagen stieg, ging ich schon mal vor zu meiner Wohnung und schloss auf. Sobald wir drin waren, legte ich sämtliche Sicherheitsketten vor. Ti reagierte leicht verwirrt.
»Soll ich auf dich aufpassen oder doch eher du auf mich?«
»Ehrlich gesagt weiß ich das auch nicht so genau. Vielleicht beides? Ich brauche jetzt jedenfalls eine Dusche und eine Mütze voll Schlaf. Wie sieht es mit dir aus?«
»Mir reicht der erste Teil.« Mit einer angespannten Geste schob er den Gedanken beiseite. »Doch ich habe natürlich vollstes Verständnis für alle, die schlafen müssen.«
»Alles klar. Aber ich bin die Erste im Bad, immerhin ist es meine Dusche.« Und wenn ein Zombie duschte, bestand die Gefahr, dass hinterher … Bröckchen im Abfluss klebten. Schnell holte ich ein Handtuch aus dem Wäscheschrank und legte es ihm auf die Couch. »Warte hier.«
Unwillkürlich kam mir der Gedanke, dass ich unter anderen Umständen, wenn unser Leben komplett anders verlaufen wäre, eine Dusche mit Ti ziemlich sexy gefunden hätte. Aber jetzt – nein. Diese Tür war endgültig zugefallen. Zwar war mir nicht ganz klar, wann oder wie das passiert war, aber als ich in mich hineinblickte, wurde mir bewusst, dass es stimmte. Vielleicht hatte ein anderer seinen Platz eingenommen. Mein Herz hatte eben schon immer gerne auf die dunklen, leicht mitgenommenen Pferde gesetzt. Seufzend konzentrierte ich mich wieder auf die Gegenwart. An meinen Knöcheln waren immer noch kleine Bisswunden zu sehen, sie waren leicht gerötet und druckempfindlich. Wenigstens war Asher nicht voller Schlangen, wie gewisse andere Leute. Dieser Gedanke trieb mich aus der Dusche. Ich trocknete mir die Haare ab und zog etwas über. Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, stand Ti automatisch auf.
»Du bist dran.«
»Bist du wirklich sicher?«
»Klar doch. So kannst du ja nicht bleiben.« Mit einem aufgesetzten Lächeln versuchte ich so zu tun, als hätten die Ereignisse dieser Nacht niemals stattgefunden; als hätte ich nicht gerade noch das Blut anderer Menschen an den Fingern gehabt.
»Okay.« Er nickte ernst und verschwand im Bad. Wenige Sekunden später wurde die Dusche angestellt. Ich ging inzwischen in die Küche und machte mir einen Kaffee. Plötzlich klopfte es.
»Ihr wollt mich wohl verarschen.« Genervt stellte ich meinen Becher ab und tapste barfuß zur Wohnungstür. Davor stand ein klatschnasser Asher. Hastig löste ich die Ketten.
»Hec-tor«, stammelte ich gerade noch den richtigen Namen. »Geht es dir gut?«
»Sicher, und dir?« Sein Blick war so eindringlich, als müsse er sich versichern, dass an mir noch alles dran war. Ja, ich wusste, wer in diesem Körper steckte, doch ich wusste auch, wer er nach dem Siebzehnten sein würde – am liebsten hätte ich mehr gesagt, aber es waren nur noch zwei Tage bis dahin. Technisch gesehen hatten wir das schicksalhafte Datum sogar schon morgen um Mitternacht erreicht. Ich durfte mich nicht wieder so in mein Schwert stürzen wie bei Ti. »Geht es dir auch wirklich gut?«, hakte er noch einmal nach, als ich nichts sagte. »Vorhin konnte ich dich nicht fragen, aber wenn
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