Diagnose zur Daemmerung
Rettungsaktion ausreichend schwer wog. Als hätte sie meine Gedanken gespürt, drehte sie sich um und sagte: »Jetzt verstehe ich, warum man dich geächtet hat.«
Ich nickte ergeben.
»Woher kennst du die Kirche?«, wandte sich Ti an Hector.
»Die Drei Kreuze haben mir heute Morgen einen Flyer mit der Adresse an die Kliniktür genagelt. Der war kaum zu übersehen.« Hector schaltete die Scheinwerfer aus und ließ den Wagen ausrollen. »Sie liegt am Ende des Blocks. Wenn ich noch näher ranfahre, wissen sie, dass wir kommen.«
»Die werden sowieso bald merken, dass wir da sind.« Luz richtete sich in ihrem Sitz auf. »Wir sehen uns dann drinnen«, verkündete sie und sprang aus dem Wagen.
»Reina!«, rief Catrina ihr hinterher. Ich beugte mich über Tis Schoß, um durch das Fenster zu sehen, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Sie war bereits losgelaufen.
»Ihr beide solltet besser hierbleiben«, bestimmte Ti mit Blick auf Catrina und mich. Natürlich wäre ich gerne mit reingegangen, aber ich war weder übernatürlich noch mit kugelsicherer Haut gesegnet. Außerdem würde es unmöglich werden, Catrina zum Bleiben zu bewegen, wenn ich mitging.
»Okay.« Mein Blick wanderte zwischen den beiden Männern hin und her. Vielleicht war es das letzte Mal, dass ich einen oder beide lebendig vor mir sah. »Passt aufeinander auf, ja?«
Hector nickte, Ti grunzte, und dann stürmten sie gleichzeitig in den Regen hinaus. Ein Schrei übertönte die prasselnden Wassermassen, Schüsse knallten.
»Runter!« Catrina zog mich in Richtung Sitz. »Das ist nicht das erste Mal, dass ich ins Kreuzfeuer gerate«, erklärte sie mir.
Die Warterei brachte mich fast um: die Kampfgeräusche und Waffen zu hören, aber nicht zu wissen, was da draußen passierte. Als ich verbotenerweise einmal durch die Windschutzscheibe spähte, zeigte mir einer der aufflackernden Blitze nur ein Lagerhaus am Ende des Blocks, dessen Tore weit offen standen.
»Unten bleiben!«, zischte Catrina.
»Warum bist du nur so ruhig?«
Wieder fielen Schüsse. Zwar versuchte ich, mir einzureden, es wäre nur Donner gewesen, aber die dazugehörigen Blitze fehlten.
Wie sehr wünschte ich mir, dass meinen Freunden nichts geschah. Wie sehr wünschte ich mir, meine Mutter wäre gesund. Nur dieses eine Mal sollte alles auf der Welt in Ordnung kommen, nur einen kurzen Moment des absoluten Friedens wollte ich, in dem ich mir keine Sorgen um andere oder mich selbst machen musste. Wieder ein Schuss, dann tauchte eine versprengte Gruppe auf. Obwohl ich es nicht sollte, drückte ich mein Gesicht gegen die Seitenscheibe und versuchte, trotz des Regens etwas zu erkennen.
Eine blutverschmierte Hand klatschte gegen das Glas. Kreischend wich ich zurück. Wie in einem Horrorfilm rutschte sie langsam nach unten, der letzte Gruß eines ertrinkenden Mannes. Der heftige Regen verwandelte die roten Schlieren in kleine Rinnsale.
Ti konnte nicht bluten, und auch bei Luz war es eher unwahrscheinlich. »Hector?«, fragte ich. Vor lauter Angst versagte mir die Stimme.
»Wage es ja nicht!«, warnte mich Catrina.
Ohne sie zu beachten öffnete ich die Tür und sah draußen Gott sei Dank einen Unbekannten liegen. Die Innenbeleuchtung des Wagens zeigte mir einen jungen Latino mit einem deutlich sichtbaren dreifachen Kreuztattoo am Hals. Reglos lag er auf dem Bürgersteig, während der Regen das Blut aus seinen Wunden wusch.
»O Gott.« Ich suchte nach meinem Handy. Auch wenn ich nicht wusste, wo wir hier waren, Catrina kannte die Adresse bestimmt. Hastig reichte ich ihr das Telefon. »Ruf den Notarzt. Sag ihnen, hier ist jemand angeschossen worden.«
Vielleicht hätte ich das schon tun sollen, bevor wir hier ankamen, immerhin war damit zu rechnen gewesen, dass es eine Schießerei geben würde. Technisch gesehen gehörte dieser Junge zu den Bösen – aber wir waren diejenigen, die hierhergekommen waren, um Ärger zu machen. Ich konnte nicht tatenlos zusehen, wie er starb.
Hector war Arzt – bestimmt hatte er einen Erste-Hilfe-Kasten im Wagen. Das gehörte sich einfach so für einen Mediziner. Zunächst tastete ich unter den Vordersitzen herum, und als ich nichts fand, kletterte ich auf den Fahrersitz, um den Kofferraumhebel zu betätigen. Dann eilte ich nach draußen, und als ich die Klappe öffnete, entdeckte ich einen Ersatzreifen, das Montiereisen und das Klebeband, das letzte Nacht nicht zum Einsatz gekommen war. Ganz hinten fand ich schließlich eine Papiertüte mit Verbandszeug.
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