Diagnose zur Daemmerung
gedrückt wurde, konnte ich beobachten, wie dieses winzige Knochenstück zu Boden fiel. Das Licht, das die beiden Frauen aneinanderfesselte, flackerte auf und begann zu flimmern.
»Edie …«, flüsterte Olympio wortlos. Ein aus der Wand hervorstehendes Schienbein hatte wie ein Speer seine rechte Schulter durchschlagen; der Knochen hatte ihn komplett durchbohrt.
»O Gott«, keuchte ich innerlich, da ich noch immer keine Stimme hatte.
Dann endlich stieß Luz einen triumphierenden Schrei aus und hob ihre verstümmelten Hände: Sie hatte sich selbst sämtliche Fingerknochen gebrochen, um sich von den Silberfesseln zu befreien. Nun rannte sie zu Großmutter und zog sie mit beiden Armen von Adriana fort. Montalvo hörte auf zu beten und brüllte wütend. Ich spürte, wie der Druck auf meiner Brust sofort nachließ, und ein entsetzter Schrei zeigte mir, dass auch meine Stimme zurückgekehrt war.
»Olympio …« Hastig kroch ich zu der Stelle, an der er hing. Wir waren die am wenigsten magischen Wesen in diesem Raum – wir mussten so schnell wie möglich verschwinden. Vorsichtig schob ich die Hand hinter seinen Rücken und versuchte, den Knochen, der ihn aufgespießt hatte, von der Wand zu lösen. Er war ganz rutschig von seinem Blut und anscheinend fest im Beton verankert. Den konnte ich nicht abbrechen, ohne Olympio dabei noch größeren Schaden zuzufügen. Schließlich wollte ich den Fremdkörper in der Wunde lassen, da dieser bei Stichverletzungen eventuell innerlich Druck auf die Arterien ausübt und so verhindern kann, dass der Betroffene verblutet. Aber ich musste Olympio hier rausholen – der lautstarke Kampf, der hinter uns entbrannte, würde nicht ewig andauern; und bei Luz’ geschwächtem Zustand war absolut nicht klar, wer am Ende gewinnen würde.
»Das wird jetzt verdammt wehtun«, warnte ich Olympio.
Er biss die Zähne zusammen und nickte. »Tu es.«
Mit beiden Händen packte ich seine Schultern und riss ihn von der Wand los. Der Junge brach in meinen Armen zusammen; schnell ballte ich seine rechte Hand zur Faust und drückte sie senkrecht gegen seine Brust, dann schlang ich den freien Arm um seinen Rücken und hob ihn an.
»Komm schon«, feuerte ich uns beide an. »Komm schon.« Langsam schleppte ich ihn Richtung Tunnel. Das Gebrüll und die wütende Schlacht hinter uns tobten weiter.
Kapitel 43
Ich war mir nicht ganz sicher, wohin wir liefen. Das Wasser stemmte sich uns entgegen und versuchte immer wieder, mir Olympio zu entreißen. Das Wasser stieg wieder an – mir war allerdings nicht klar, ob das nun bedeutete, dass ich in die falsche Richtung lief, oder ob es draußen wieder angefangen hatte zu regnen. Jedes Mal, wenn ich an ihm zerrte, jammerte Olympio leise, und meine Brust war warm von seinem Blut.
»Du darfst nicht sterben«, erklärte ich ihm genauso wie mir. »Ich verbiete es dir.« Mit der Schulter tastete ich mich an der Tunnelwand entlang und stieß immer wieder mit dem Kopf an die Decke. Von dem ständigen Rauschen des Wassers wurde mir ganz schwindelig. Und wenn ich nun im Kreis lief? Vielleicht hatte Montalvos Magie die Tunnel irgendwie verändert. Was, wenn es keinen Ausweg gab?
»Komm schon.« Immer weiter schleppte ich uns voran. Irgendwann wurde die Luft frischer, und der Druck gegen meine Beine nahm noch einmal zu. Bis zu den Oberschenkeln war ich klatschnass, von den Zehen bis zu den Knien war alles taub. Das Einzige, was mich aufrecht hielt, war der Drang, Olympio hier rauszuschaffen.
Plötzlich stieg der Wasserspiegel so abrupt an, dass ich taumelte. Reflexartig riss ich an Olmypios Arm. Sein lauter Schmerzensschrei hallte durch den Tunnel. Während ich ihn wieder hochzog, stellte ich mich seitlich zur Strömung, damit die ansteigende Wasserwand weniger Angriffsfläche fand.
»Edie? Olympio!« Irgendwo weiter vorn brüllte jemand unsere Namen.
» ¡Estoy aquí! Hier!«, rief Olympio in meinen Armen schwach zurück.
Ich war zu sehr außer Atem, um Laut zu geben. Wenn ich jetzt das Gleichgewicht verlor, wäre es aus: Dann würden wir beide fortgespült und gegen die Tunnelwände geschleudert werden.
»Edie! Olympio!« Die Stimme war näher, klang ängstlicher.
Ich sah ein Licht, dann packte mich jemand. Instinktiv versuchte ich, die Hände abzuschütteln. Olympio stöhnte, als er aus meinen Armen gezogen wurde.
»Was ist mit euch … Edie …« Es war Ti, der die Arme um mich legte und über das Wasser hob. Neben ihm ging Asher und trug Olympio.
»Sie ist da
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