Diagnose zur Daemmerung
Boden, an beiden Händen gefesselt, und plötzlich wurde mir klar, dass dieses leise Zischen von ihr stammte – ihre Handfesseln bestanden aus Silber, das ihr Fleisch fast genauso schnell verbrannte wie es heilte.
»Luz, wann ist das passiert?« Hatte jemand die Reinas tagsüber angegriffen, nachdem Catrina als Luz’ Wächterin ausgefallen war? Hoffentlich hatten die Wachposten mit ihren Maschinenpistolen die Menschen in der Festung der Reinas beschützen können.
»Warum wacht sie nicht auf?«, fragte Olympio.
»Sie ist die Reina de la Noche, und draußen ist es schließlich hell.« Hier unten mochte es ja so finster sein, dass man ohne Taschenlampe nichts sehen konnte, doch dort oben herrschte noch immer der Tag. Ich zeigte auf ein paar herumliegende Knochen und schnippte ungeduldig mit den Fingern. »Gib mir die, bitte.« Der Junge gehorchte prompt, und ich schob die Knöchelchen zwischen Luz’ Haut und die Silberfesseln.
Plötzlich wurden Schritte laut, die sogar das Rauschen des Wassers übertönten. Kurz darauf tauchte aus den Schatten an der gegenüberliegenden Wand eine zweite Luz auf.
»Wie …?« Olympio war sprachlos.
Allerdings, wie war das möglich? Nach kurzer Panik begriff ich: Irgendwann musste Montalvo Luz berührt haben; als Gestaltwandler war es ihm damit möglich, ihre Gestalt anzunehmen und wahrscheinlich auch gelungen, dadurch Adriana zu täuschen und gefangen zu nehmen. Als Luz letzte Nacht dann vorausgestürmt war, um nach Adriana zu suchen, musste Montalvo sie überwältigt haben.
Und deshalb hatten wir gestern auch nicht Luz im Auto mitgenommen, sondern Montalvo. Kein Wunder, dass er Catrina einfach im Stich gelassen hatte. Und da er ja in Wirklichkeit kein Vampir war, konnte der Tag ihm auch nichts anhaben.
Als der Gestaltwandler uns sah, stemmte er eine Hand, die eigentlich nicht seine war, in die Hüfte. »Jetzt verstehen Sie also.« Die wache Luz musterte erst ihren bewusstlosen Zwilling, dann mich. »Wenn mein Sohn Sie liebt, müssen Sie clever sein, so viel war mir klar«, fuhr der Gestaltwandler mit Luz’ Gesicht fort. Und dann verwandelte er sich in Montalvo.
Luz’ Kleidung wurde etwas eng, bevor sie verschwand und sich parallel zu seinem Körper in Montalvos schwarze Robe verwandelte. Sogar die Halskette mit der Sense war plötzlich da. Ich wusste nicht, ob dieses Detail nun zur Gestaltwandlung dazugehörte oder schlichte Magie war.
»Dann sind Sie also tatsächlich Ashers Vater?«, fragte ich in dem Versuch, ihn in ein Gespräch zu verwickeln.
»Nur ein Teil von mir. Das ist alles ziemlich kompliziert hier drin.« Sein behandschuhter Finger tippte gegen seine Stirn, während Montalvo mich mit funkelnden Augen beobachtete. »Wir benutzen den Gestaltwandler nur, wenn wir ihn brauchen. Während der restlichen Zeit tun wir das, was ich sage.«
Da ich nicht sicher war, mit wem ich mich gerade unterhielt und wie derjenige angesprochen werden wollte, forderte ich: »Lassen Sie sie gehen!«
Er grinste breit, dann lachte er. »Wir haben einen Plan, und das Mädchen ist ein Teil davon. Es ist zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen.«
»Aber Adriana ist unschuldig«, flehte ich. »Sie müssen sie freilassen.«
Montalvo schritt auf uns zu, bis ich ihm direkt in die Augen sehen konnte. »Warum sollte ich das tun?« Mit einer ausladenden Geste umfasste er das gesamte Zimmer inklusive Käfig und Knochen an den Wänden. »Ich habe einen wundervollen Plan, und Sie erwarten nun, dass ich ihn ruiniere? Warum? Weil Sie glauben, eine wackelige Beziehung zu jemandem aus meiner Vergangenheit zu pflegen?«
Offensichtlich erwartete Montalvo eine Antwort. Je länger ich mich dumm stellte und je länger wir redeten, desto größer war die Chance, dass Luz aufwachte oder Asher den Weg hierherunter fand und uns entdeckte. Mit Glück.
»Haben Sie eine Vorstellung, wie viele Vergangenheiten momentan in mir ruhen?«, bohrte er weiter.
Mir fiel nichts weiter ein, als den Kopf zu schütteln.
Montalvo lehnte sich vor. »Ich werde es Ihnen sagen: Tausende. Und sie alle sind verrückt. Und der Gestaltwandler, der Vater Ihres Freundes, ist der Schlimmste von allen.« Er hob einen losen Knochen vom Boden auf und zog ihn mit der schärfsten Kante über seine Stirn. »Er schreit und schreit, bis ich ihn am liebsten aus mir herausschneiden würde. Dabei war das alles seine Idee. Es war seine Idee!« Brutal bohrte er sich den Knochen in die Stirn. Als er die Hand sinken ließ, blieben ein
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