Diagnose zur Daemmerung
galten, die mir nur noch niemand erklärt hatte. Das Gefühl kannte ich gut – von meiner Zeit auf Y4. »Warum hatte sie dieses Biss-Tattoo?« Das Muster, zusammen mit den Shirts und meinem Patienten von gestern, war ein zu eindeutiger Hinweis. Schließlich ließen sich die Drei Kreuze auch Kreuze auf den Hals tätowieren!
Dr. Tovar musterte mich, als hätte ich irgendwelche Hirngespinste. »Sie meinen sicher die Narben der Schusswunden. Einschusslöcher. Das ist ein Zeichen dafür, wie oft jemand angeschossen wurde.«
Wieder drehte ich mich zu dem Markt um, der mit jedem Schritt weiter hinter uns zurückblieb, dann sah ich Tovar skeptisch an, doch er wich meinem Blick aus. Alles deutete darauf hin, dass es hier irgendwo Vampire gab – die einzige Frage war nur, wie viel Dr. Tovar über sie wusste. Und ob ich ihn rechtzeitig dazu bringen würde, es mir zu erzählen, damit ich meine Mom heilen konnte.
Kapitel 11
Etwas eingeschüchtert war ich bei der Arbeit schon. Zum einen war ich Zeuge dieses Gewaltausbruchs geworden, außerdem wurde ich von dem Gefühl beherrscht, mehr Fragen als Antworten zu haben, besonders in Bezug auf Dr. Tovar. Ich versuchte, mich möglichst beschäftigt zu halten. Das war das Einzige, was mir in solchen Situationen half.
Falls Dr. Tovar ein Tageslichtagent war, wurde das Blut an jemanden weitergeleitet. An wen? Wer war diese Herrscherin der Nacht, die die Tätowierungen der Drei Kreuze abschrecken sollten? Immer wieder beobachtete ich, wie Catrina vor oder nach mir in die Behandlungszimmer schlüpfte. Sie hielt anschließend nie irgendwelche Teströhrchen in der Hand, aber so eine OP-Hose hat schließlich Taschen, richtig?
Immer schön unauffällig bleiben, Edie, ermahnte ich mich. Jetzt stand mir nicht mehr der Schutz meines ehemaligen Jobs oder meiner ehemaligen Freunde zur Verfügung. Und offiziell war ich eine Geächtete – es bestand das Risiko, dass meine Tarnung aufflog und man mich rausschmiss. Was hätte ich dann erreicht?
Es musste einen Weg geben, Tovar zu einem Geständnis zu zwingen. Irgendetwas ganz Einfaches. Wie Weihwasser, oder Kreuze. Aber ich hatte nichts dergleichen bei mir. Da ich allein im Behandlungszimmer war und auf den nächsten Patienten wartete, erlaubte ich mir ein frustriertes Schnauben.
Wenig später führte Eduardo zwei Frauen herein, die sich erstaunlich ähnlich sahen. Die Jüngere, die ungefähr in meinem Alter war, half ihrer Mutter, sich auf den Behandlungstisch zu setzen.
»Ich brauche Sie nicht«, informierte mich die alte Dame, sobald sie es sich bequem gemacht hatte, »der curandero hat mich geheilt.«
Das brachte ihre Tochter sofort auf hundertachtzig. »Ach ja? Und warum lag dein Blutzucker dann beim letzten Mal bei vierhundertdrei?«
»Der curandero ?«, hakte ich nach. Die Dame nickte energisch und redete dann auf Spanisch auf ihre Tochter ein. Offensichtlich trugen sie einen Streit aus, den sie schon sehr oft geführt hatten.
Natürlich wollte ich nicht ausplaudern, dass der curandero selbst Teststreifen benutzte, um seinen Blutzucker zu messen, aber wenn er Menschen mit unbehandeltem Diabetes erzählte, sie wären geheilt, richtete er damit mehr Schaden als Nutzen an. Ganz egal, wie nett sein Enkel war.
Die Tochter wartete ab, bis sich die Gemüter etwas beruhigt hatten, dann fasste sie die Lage für mich zusammen: »Sie glaubt, er hätte sie geheilt. Dass sie, nachdem er zweimal Gebete über sie gesprochen hat, gesund wäre.«
»¡No, si me ve dos veces más, que se va a curar!«
»Meinetwegen kannst du jeden Tag zu ihm gehen, Mutter – solange du weiter dein Insulin nimmst!«
Die beiden waren das reinste Spiegelbild von Mom und mir. Und genau wie bei meiner eigenen Mutter wusste ich nicht, was ich in dieser Situation tun sollte. Bestimmt hatte die alte Dame schon oft genug gesagt bekommen, warum sie ihre Medikamente nehmen sollte, und die Tochter war es leid, sie immer wieder dazu überreden zu müssen.
Ich versuchte es ganz wissenschaftlich: »Es gibt kein Zaubermittel gegen Diabetes, da hilft nur eiserne Disziplin. Sonst werden die Zuckerkristalle in Ihrem Blut Ihre Nieren und die Blutgefäße in Ihren Händen und Füßen schädigen. Irgendwann sterben Ihre Nerven ab, dann können Sie heiß und kalt nicht mehr unterscheiden. Und mit so viel Zucker im Blut, das möglichen Erregern Nahrung bietet, könnten Sie schon an einer geringfügigen Infektion sterben.«
Obwohl ich das Gefühl hatte, die Mutter habe mich ganz gut
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