Diagnose zur Daemmerung
zwischen Wolf und Mensch. Und zwar mit den widerwärtigsten Aspekten beider Erscheinungsformen.
Er kratzte am Türrahmen, bis dicke Splitter herausbrachen – böser, großer Hund!
»Hau ab!« Von dem würde ich keine Antworten bekommen. Vielleicht hatte er mich nur aufgespürt, weil er es eben konnte, um mich zu quälen. Obwohl er selbst Schuld hatte an seinem Schicksal, war er wahrscheinlich der Meinung, ich hätte ihm das eingebrockt. Was war wohl schlimmer für ihn: Zu wissen, dass er nie wieder ganz Wolf oder Mensch sein konnte – oder das Bewusstsein, zu ewiger Unterwürfigkeit gegenüber Dren gezwungen zu sein?
Mir lag nichts daran, ihm wehzutun, aber der Versuch, mit ihm zu kommunizieren, war sinnlos; so würde ich meine Mom nicht retten. Da kam mir ein Gedanke. »Jorgen, wo ist Dren?«
Er hörte auf zu kratzen und zog die Pfote zurück. Dann schob sich seine Nase – feucht wie bei einem Hund, aber rosig wie die eines Menschen – in den Türspalt. Er nahm zwei tiefe Atemzüge, erschnüffelte meine Sachen, roch mich, und zog sich anschließend ein Stück zurück, bevor er über die Schulter schaute. Seine menschlichen Augen richteten sich kurz auf mich, dann drehte er den Kopf wieder demonstrativ nach hinten.
»Ist Dren in einen Brunnen gefallen?«, riet ich kopfschüttelnd. Eigentlich wollte ich gar nicht wissen, warum Jorgen hier war. Dafür konnte es einfach keinen angenehmen Grund geben.
Aber Dren war ein Vampir. Und meine Mom brauchte Blut, um gesund zu werden.
»Ist Dren da draußen?«
Jorgen stieß ein frustriertes Knurren aus, leise aber Furcht einflößend.
»Er soll hier zu mir raufkommen, wenn er reden will. Ich werde bestimmt nicht rausgehen.« Wenn auf dem Parkplatz ein Vampir wartete, wollte ich ihm lieber von der Sicherheit meiner Wohnung aus gegenübertreten, wo die strengen Zutrittsbeschränkungsregeln griffen.
Jorgens Pfote tauchte wieder auf und drückte gegen die Tür. Der Rahmen ächzte, und die Ketten knirschten gefährlich. Als er sich zurücklehnte und mit voller Wucht gegen die Tür rannte, wurde eine der neuen Ketten aus der Verankerung gerissen.
»Jorgen!«, schimpfte ich, auch wenn es sinnlos war. Hastig griff ich nach dem Kreuz und berührte damit seine Pfotenspitze. Heulend wich er von der Tür zurück.
»Was ist denn da los?«, rief mein Nachbar von gegenüber durch die geschlossene Wohnungstür. Er, seine Frau und die beiden Kinder wohnten höchst beengt in einer Einzimmerwohnung, die genauso groß war wie meine. Kurz bevor die Tür gegenüber aufgerissen wurde, jagte Jorgen die Treppe hinunter und verschwand in der Dunkelheit. Wäre nicht nötig gewesen – immerhin konnten Spürhunde von normalen Menschen in der Regel nicht gesehen werden. Zwischen den diversen Ketten hindurch warf mir mein Nachbar einen prüfenden Blick zu. »Alles okay?«, fragte er.
»Ja.« Ich nickte hastig. »Übler Exfreund.«
Grunzend verschränkte er die Arme vor dem Bauch. »Wir wollen hier keinen Ärger haben. Wenn er zurückkommt, sollten Sie besser die Polizei rufen.«
»Werde ich machen.«
Er musterte mich noch einmal scharf, dann nickte er und schlug die Tür zu. Seine Aufgabe hatte er erfüllt.
Meine war mir gerade erst gestellt worden.
Kapitel 16
Ich versuchte nach Jorgens Auftritt zu schlafen, was aber gar nicht so einfach war. Noch nie hatte ich einen Spürhund ohne seinen Besitzer gesehen, und es passte nicht zu Dren, sich absichtlich rarzumachen. Unsere gemeinsame Vergangenheit hatte deutlich gezeigt, dass er die Dinge gerne selbst in die Hand nahm – wobei der Singular hier sehr treffend war. Schon unfair, dass ich mir auf Lebenszeit ein Wesen zum Feind gemacht hatte, das niemals sterben würde.
Gleichzeitig glaubte ich nicht, dass Anna die Ächtung aufheben würde, ohne mich vorher zu warnen. Was mich zu der Frage brachte, ob mit ihr alles in Ordnung war. Hatte Ti sich gestern vielleicht deswegen nach ihr erkundigt? Ich hätte ihm ein paar Fragen stellen sollen, als sich die Gelegenheit bot.
In dieser Nacht fand ich jedenfalls keinen Schlaf mehr. Ich starrte auf die Zeitanzeige an meinem Wecker, bis irgendwann die Sonne aufging. Dann stand ich auf. Vielleicht konnte ich ja doch ein normales Leben führen, wenn ich einfach so tat, als wäre tagsüber Nacht.
Um halb acht hatte ich mir bereits die Zähne geputzt und beschloss, auswärts zu frühstücken. Das beste Café der Stadt war nur zwei Hochbahnhaltestellen entfernt, und damit nah genug, um mir jede Menge
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