Diagnose zur Daemmerung
musterte seine Hände, als würde Blut daran kleben. »Wie konnte ich nur so blind sein?«
»Kannst du dich an das Mädchen in diesem Haus erinnern?«
»O Gott – nein, was habe ich denn noch getan?«
»Sie saß in einem Käfig, und der Raum, in dem sie gefangen gehalten wurde, war mit Knochen verkleidet. Ich habe es nicht geschafft, sie zu befreien.«
»Warum … Warum das alles? Und warum ausgerechnet ich?«
»Von dir kann sich Dren nicht nähren, vielleicht war das der Grund.«
Ungläubig starrte Ti mich an. »Du hast ihn gerettet? Warum?«
»Weil ich keine Möglichkeit gefunden habe, das Mädchen zu retten. Und auch wenn Dren wirklich fruchtbar ist: Diese Folter hat niemand verdient, Ti.«
Entschlossen ballte er die Fäuste. »Ich weiß, wo Montalvo ist. Ich werde ihn umbringen.«
»Wenn er dich derart unter Kontrolle hat, darfst du nicht wieder zu ihm gehen, Ti. Wer weiß, was sonst in der nächsten Nacht mit dir geschieht.« Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass es schon sechs Uhr war; bald würde die Sonne untergehen. »Wir sollten herausbekommen, wie wir dich wieder hinkriegen und eine Art Heilung für dich finden.«
»Aber wie?«
Tja, wie? Ich verzog das Gesicht. Mir fiel nur einer ein, der sich auf unheilbare Patienten spezialisiert hatte.
Kapitel 34
Bereitwillig begleitete mich Ti zur Hochbahn. Es fiel mir schwer, nicht an unseren letzten gemeinsamen Ausflug zu denken, als wir zu dem Vampirprozess gefahren waren, der das Schicksal von Anna und mir besiegelt hatte. Ich stellte mich neben ihn, aber nicht zu dicht: Zwar wollte ich die anderen Passagiere schützen, falls er die Kontrolle verlor, aber ich wollte auch nicht, dass er auf dumme Ideen kam, was uns beide anging.
Doch er schien völlig in Gedanken versunken zu sein. Wahrscheinlich ging er jeden einzelnen Tag durch, an den er sich erinnerte, und suchte nach weiteren Gedächtnislücken.
Ich wandte mich ab und schickte Asher eine SMS: Hi, brauche mehr Zeit. Ti ist bei mir – momentan ungefährlich. Bringe ihn zum curandero . Eine Antwort bekam ich nicht.
Als wir an der Klinik-Haltestelle ausstiegen, befand sich der Markt bereits in Auflösung. Die Verkäufer brachten ihre Waren nach Hause, da es nicht sicher war, sie nachts hier anzubieten. Wir gingen zur Klinik, an deren Eingangstür ein leuchtend blauer Flyer der Drei Kreuze festgetackert war. Offenbar sollte Freitagabend mit einer Messe zu Ehren von Santa Muerte eine großartige neue Kirche eröffnet werden. Das war der Achtzehnte, also einen Tag nach dem Datum, auf das Montalvo Adriana hinhungern ließ. Die Zettel waren überall auf dem Boden verstreut, was mich kurz überlegen ließ, ob hier ein Kampf stattgefunden hatte.
»Wohin jetzt?«, fragte Ti und blickte sich suchend um.
»Ich hatte gehofft, Olympio hier zu finden.« Mit Ti an meiner Seite fühlte ich mich sicher, als wir die Straße hinuntergingen. Krampfhaft versuchte ich, mich an den Weg zu erinnern, aber es war dunkel gewesen, außerdem waren wir von dort ja zur Festung der Reinas aufgebrochen. Eine der Seitenstraßen kam mir bekannt vor, also bog ich dort ab, woraufhin wir vor dem Wandgemälde von Santa Muerte landeten. Die Strahlen der untergehenden Sonne tauchten sie in ein unheimliches Licht. Wie viel Zeit blieb mir noch? Wirklich ein toller Plan. Ich baute mich vor dem Bild auf. »Hey, du! Ich habe hier wirklich eine Menge zu tun, wie wär’s, wenn du mir mal hilfst?«
Tis Blick wanderte verwundert zwischen der Mauer und mir hin und her. »Äh … Edie?«
»Hey!« Ich drehte mich zu der Stimme um, die mich gerufen hatte, und sah Olympio heranstrampeln. Er saß auf einem Fahrrad, das viel zu klein für ihn war, und winkte wild. »Hallo, Edie!«
»Olympio!« Er stellte das Fahrrad ab und kam zu uns. Erleichtert schloss ich ihn in die Arme, und er erwiderte den Gruß ungefähr eine Sekunde lang, bevor ihm bewusst wurde, wie uncool das wirken musste. Hastig machte er sich von mir los. »Du musst mir einen Riesengefallen tun, Olympio.«
Der Junge sah über meine Schulter zu Ti hinüber, der stumm vor sich hin brütete. »Wer ist das?«
»Er wird jede Nacht von Montalvo kontrolliert, wie bei einem Besessenen. Kann dein Großvater das heilen?«
Olympio musterte Ti prüfend, und ich fragte mich, was seine don ihm wohl alles zeigte. »Klar kann er das«, behauptete der Junge, doch er wirkte unsicher.
»Wie kommen wir von hier aus zu ihm?«
»Es ist nicht weit, ich bringe euch hin. Folgt mir.« Damit
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