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Diamantene Kutsche

Diamantene Kutsche

Titel: Diamantene Kutsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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zurückgefahren. Die Zugbegleiter und einige Passagiere halfen, Verletzte aus dem Fluß zu bergen. Von diesem Ufer ist es näher zur Bahnstation als vom anderen. Es wurden Gespanne hergeschickt, um die Verletzten ins Krankenhaus zu bringen.«
    Fandorin winkte mit einer gebieterischen Geste den Chef der Zugbrigade zu sich. Er fragte: »Wie viele Reisende waren im Zug?«
    »Es waren alle Plätze verkauft, Herr Ingenieur. Also dreihundertzwölf Personen. Ich bitte um Verzeihung, aber wann können wir weiterfahren?«
    Zwei Reisende standen ganz in der Nähe: ein Stabskapitän und eine hübsche Dame. Beide waren von Kopf bis Fuß voller Schlamm. Der Offizier goß seiner Reisegefährtin Wasser aus einem Samowar auf ein Tuch, und sie rieb sich damit gründlich das schmutzige Gesicht ab. Beide lauschten neugierig dem Gespräch.
    Von der Brücke her kam ein Trupp Eisenbahngendarmen gerannt. Der Kommandeur langte als erster an, legte die Hand an die Mütze und sagte: »Herr Ingenieur, zu Ihrer Verfügung eingetroffen. Zwei weitere Züge stehen am anderen Ufer. Die Experten haben die Arbeit aufgenommen. Was befehlen Sie?«
    »Die Brücke auf beiden Seiten und am Ufer absperren. Niemanden an die Bruchstelle lassen, nicht einmal einen General. Sonst lehnen die Ermittler jede Verantwortung ab – sagen Sie das genau so. Sagen Sie Sigismund Lwowitsch, er soll nach Spuren von Sprengstoff suchen. Obwohl, das ist nicht nötig, er wird es selbst sehen. Und ich brauche einen Schreiber und vier Soldaten, möglichst fixe Männer. Und noch eins: Den Kurierzug ebenfalls abriegeln. Weder Reisende noch Zugpersonal dürfen ohne meine Erlaubnis weg.«
    »Herr Ingenieur«, rief der Zugchef klagend, »wir stehen doch schon über vier Stunden!«
    »Und Sie werden noch eine ganze Weile hier stehen. Ich brauche eine v-vollständige Liste aller Reisenden. Wir werden jeden vernehmen und die Papiere überprüfen. Und Sie, Mylnikow, sollten sich lieber um den verschwundenen Telegrafisten kümmern. Hier komme ich auch ohne Sie zurecht.«
    »Ja, natürlich. Das hier ist Ihre Sache«, stimmte Mylnikow ihm zu und wedelte mit den Armen: In Ordnung, ich bin schon weg, ich will gar nichts weiter – doch er ging nicht.
    »Werte Reisende«, wandte sich der Eisenbahner trübsinnig an den Offizier und die Dame, »begeben Sie sich bitte wieder auf Ihre Plätze. Haben Sie gehört? Man wird Ihre Papiere kontrollieren.«
     
    »Ein Unglück, Glikerija Romanowna«, flüsterte Rybnikow. »Ich bin verloren.«
    Die Lidina betrachtete gerade seufzend ihre mit Blut besudelte Spitzenmanschette, blickte nun jedoch auf.
    »Warum? Was ist geschehen?«
    Rybnikow las in ihren ein wenig geröteten, aber noch immer wunderschönen Augen die Bereitschaft zu unverzüglichem Handeln, und erneut, zum wiederholten Mal in dieser Nacht, staunte er über dieses Moskauer Dämchen.
    Bei der Bergung von Verletzten und Ertrinkenden hatte die Lidina sich vollkommen verblüffend verhalten: Sie hatte nicht geheult, keine hysterischen Anfälle bekommen, nicht einmal geweint, sich in den schlimmsten Augenblicken lediglich auf die Unterlippe gebissen, so daß diese gegen Morgen ganz geschwollen war. Rybnikow konnte nur den Kopf schütteln, wenn er sah, wie dieses zierliche Fräulein einen kopfverletzten Soldaten aus dem Wasser zog oder mit einem Streifen, den sie aus ihrem Seidenkleid riß, eine blutende Wunde verband.
    Einmal murmelte er sogar: »Wahrlich wie in Nekrassows Poem ›Russische Frauen‹.« Dann wandte er sich rasch um, ob etwa jemand seine Bemerkung gehört hatte, die schlecht zu dem Bild des grauen, verhuschten kleinen Offiziers paßte.
    Seit Rybnikow sie aus den Fängen des schwarzhaarigen Neurasthenikers gerettet hatte, besonders aber nach einigen Stunden gemeinsamer Arbeit, behandelte die Lidina ihn wie einen alten Freund – offensichtlich hatte sie ihre Meinung über ihren Coupénachbarn geändert.
    »Was ist denn passiert? Nun reden Sie schon!« rief sie und sah Rybnikow erschrocken an.
    »Ich bin in jeder Hinsicht verloren«, flüsterte Rybnikow, während er ihren Arm nahm und mit ihr langsam in Richtung Zug ging. »Ich bin nämlich eigenmächtig nach Petersburg gefahren, ohne Genehmigung.Meine Schwester ist krank. Nun wird es herauskommen – ein Unglück …«
    »Arrest, ja?« fragte die Lidina bekümmert.
    »Ach, Arrest wäre halb so schlimm. Schlimm ist etwas anderes … Erinnern Sie sich an das Lederetui, nach dem Sie fragten? Kurz vor der Explosion? Ich habe es

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