Diamantene Kutsche
tatsächlich auf der Toilette liegengelassen. Meine ständige Zerstreutheit!«
Glikerija flüsterte furchtsam, die Hand vorm Mund: »Die geheimen Zeichnungen?«
»Ja. Sie sind sehr wichtig. Selbst bei meiner eigenmächtigen Entfernung von der Truppe habe ich sie nicht aus der Hand gegeben.«
»Und wo sind sie jetzt? Haben Sie denn nicht auf der Toilette nachgesehen?«
»Sie sind weg«, sagte Rybnikow mit Grabesstimme und ließ den Kopf hängen. »Jemand hat sie mitgenommen … Das bedeutet nicht Arrest, das bedeutet Tribunal. Nach Kriegsrecht.«
»Entsetzlich!« Die Dame bekam ganz runde Augen. »Und was nun?«
»Ich habe eine Bitte an Sie.« Sie hatten inzwischen den letzten Wagen erreicht, und Rybnikow blieb stehen. »Ich werde jetzt, solange niemand hersieht, unter die Räder kriechen, und dann einen geeigneten Moment abpassen und mich in die Büsche schlagen. Ich darf nicht in die Kontrolle geraten. Verraten Sie mich bitte nicht, nein? Sagen Sie, Sie hätten keine Ahnung, wo ich bin. Wir hätten die ganze Fahrt über kein Wort gewechselt, was interessiert Sie ein fremder Mann? Und meinen Koffer, den nehmen Sie mit, ich hole ihn mir dann in Moskau bei Ihnen ab. Ostoshenka, sagten Sie?«
»Ja, das Bomse-Haus.«
Die Lidina schaute hinüber zu dem großen Petersburger Chef und den Gendarmen, die auf den Zug zugelaufen kamen.
»Helfen Sie mir, retten Sie mich?« Rybnikow trat in den Schattendes Waggons.
»Selbstverständlich!« Ein entschlossener, ja tollkühner Ausdruck trat in ihr Gesicht – wie vor kurzem, als sie die Notbremse gezogen hatte. »Ich weiß, wer Ihre Zeichnungen gestohlen hat! Das widerliche Subjekt, das mich angegriffen hat! Darum hatte er es so eilig! Und die Brücke hat bestimmt auch er gesprengt!«
»Gesprengt?« fragte Rybnikow, der ihren Worten nicht folgen konnte, verblüfft. »Wie kommen Sie darauf? Wie soll er sie denn gesprengt haben?«
»Woher soll ich das wissen, ich bin schließlich kein Militär! Vielleicht hat er eine Bombe aus dem Fenster geworfen! Ich werde Ihnen auf jeden Fall helfen! Und Sie müssen nicht unter den Waggon kriechen!« rief sie, während sie bereits den Gendarmen entgegenlief. Sie war so abrupt losgestürmt, daß Rybnikow sie nicht hatte zurückhalten können.
»Wer ist hier der Oberste? Sie?« fragte die Lidina den eleganten Herrn mit den grauen Schläfen. »Ich habe etwas Wichtiges mitzuteilen!«
Mit besorgt gerunzelter Stirn blickte Rybnikow unter den Waggon, aber es war zu spät, sich dort zu verkriechen – zahlreiche Augen schauten in seine Richtung. Rybnikow biß die Zähne zusammen und folgte der Lidina.
Die hielt den Grauhaarigen am Ärmel seines Sommermantels gepackt und redete in unglaublichem Tempo auf ihn ein.
»Ich weiß, wen Sie suchen müssen! Hier war ein Mann, ein unangenehmer Brünetter, geschmacklos gekleidet, mit einem Brillantring – ein riesiger Stein, aber nicht lupenrein. Ungemein verdächtig! Er hatte es sehr eilig, nach Moskau zu gelangen! Alle sind geblieben, viele haben geholfen, Menschen aus dem Wasser zu bergen, er aber hat seine Tasche gegriffen und ist weggefahren! Und nicht nur das. Als das erste Gespann von der Station kam, um dieVerletzten abzutransportieren, hat er den Kutscher bestochen, hat ihm Geld gegeben, viel Geld, und ist losgefahren. Ohne einen einzigen Verwundeten!«
»Ja, das stimmt«, bestätigte der Zugchef. »Er reiste im zweiten Wagen, im sechsten Coupé. Ich habe gesehen, wie er dem Bauern einen Hunderter gab – für einen Leiterwagen! Und abbrauste in Richtung Station.«
»Ach, seien Sie doch still, ich bin noch nicht fertig!« wehrte die Lidina verärgert ab. »Ich habe gehört, wie er den Bauern fragte: ›Gibt es auf der Station eine Rangierlok?‹ Er wollte eine Lokomotive mieten, um schnell abzuhauen! Ich sage Ihnen, er ist ungemein verdächtig!«
Rybnikow hörte gespannt zu und erwartete, daß sie gleich das angeblich gestohlene Lederetui erwähnen würde, doch die kluge Glikerija verschwieg diesen höchst verdächtigen Umstand, womit sie den Stabskapitän ein weiteres Mal verblüffte.
»Ein inter-ressanter Reisender«, sagte der Herr mit den grauen Schläfen gedehnt und winkte energisch einen Gendarmerieoffizier heran. »Oberleutnant! Schicken Sie jemanden ans andere Ufer. Im Inspektionswagen sitzt mein chinesischer Diener, Sie kennen ihn. Er soll schnell herkommen. Ich bin auf der Station.«
Rasch lief er am Zug entlang.
»Und der Kurierzug, Herr Fandorin?« rief ihm der Oberleutnant
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