Diamantene Kutsche
Berichte, die ich an den Herrn Vize-Intendanten geschickt habe.«
Fandorin fragte mißtrauisch: »Was für Berichte?«
»Über jedes unserer Gespräche, über jede Beratung mußte ich Suga unverzüglich Bericht erstatten, per Expreßkurier. Das war ein Befehl, und ich hielt mich daran. Ich habe insgesamt acht Berichte abgeschickt. Doch in der Akte, die mir der Leiter der Schreibstube gab, fand ich nur fünf davon. Drei fehlten: Der darüber, daß Ihr Diener den vermutlichen Mörder gesehen hat, der über den Hinterhalt am Godaún und der über die Fingerabdrücke des geheimnisvollen Shinobi, die bei der Munizipalpolizei lagen.«
Nun hatte der Inspektor offenbar alles gesagt. Eine Zeitlang herrschte Schweigen: Fandorin dachte konzentriert nach, Asagawa wartete auf das Ergebnis seines Nachdenkens.
Es mündete in eine Frage, die Fandorin mit leiser Stimme stellte, wobei er Asagawa durchdringend ansah.
»Warum kommen Sie damit zu mir, warum gehen Sie nicht zum Polizei-Intendanten?«
Asagawa hatte diese Frage offenkundig erwartet und sofort eine Antwort parat.
»Der Polizei-Intendant ist ein hohler Mensch, er bekleidet den Posten nur wegen seines klangvollen Titels. Und außerdem …« Der Japaner war verlegen, es fiel ihm offensichtlich schwer, dies einem Ausländer gegenüber zu äußern. »Woher soll ich wissen, wer noch an der Verschwörung beteiligt war? Selbst in der Polizeiverwaltung reden manche Leute offen davon, daß die Satsumaer zwar Staatsverbrecher sind, aber trotzdem Helden. Einige flüstern sogar, Okubo habe bekommen, was er verdiente. Das ist der erste Grund, weshalb ich beschlossen habe, mich an Sie zu wenden …«
»Und der zweite?«
»Sie haben mich gestern um Verzeihung gebeten, obwohl Sie das nicht hätten tun müssen. Sie sind ein aufrechter Mann.«
Im ersten Moment begriff Fandorin nicht, was Aufrichtigkeit damit zu tun hatte, dann vermutete er, es liege an der unpräzisen Übersetzung. Wahrscheinlich beschrieben sowohl das englische »sincere man«, das Asagawa benutzte, als auch das russische »aufrechter Mann«, mit dem Shirota Puschkin, Marschall Saigo und Doktor Twiggs bezeichnete, nur unzureichend die Eigenschaft, die von den Japanern so geschätzt wurde. Vielleicht bedeutete es »unverfälscht«, »echt«? Er mußte Doronin danach fragen.
»Ich verstehe trotzdem nicht, warum Sie damit zu mir kommen«, sagte Fandorin. »Was läßt sich jetzt noch ändern? Herr Okubo ist tot. Seine Gegner haben die Oberhand, nun werden sie die Politik Ihres Landes bestimmen.«
Asagawa war zutiefst erstaunt.
»Was heißt ändern? Von Politik verstehe ich nichts, das ist nicht meine Sache, aber ich bin schließlich Polizist. Ein Polizist ist dazu da, daß keine Untat ungestraft bleibt. Vergehen gegen die Pflicht, Verschwörung und Mord – das sind schwere Verbrechen. Dafür muß Suga sich verantworten. Wenn ich ihn nicht bestrafen kann, bin ich kein Polizist. Das ist, wie Sie immer sagen, erstens. Und zweitens: Suga hat mir eine schwere Beleidigung zugefügt – er hat mich wie ein dummes Kätzchen aussehen lassen, das hinter einem Wollknäuel herspringt. Ein aufrechter Mann duldet nicht, daß jemand so mit ihm umgeht. Also: Wenn Sugas Verbrechen unbestraft bleibt, dann bin ich erstens kein Polizist und zweitens kein aufrechter Mann. Und was bin ich dann, wenn ich fragen darf?«
Nein, »sincere man« bedeutet »Mann der Ehre«, dachte Fandorin.
»Wollen Sie ihn etwa töten?«
Asagawa nickte.
»Das würde ich zu gern. Aber ich werde es nicht tun. Weil ich Polizist bin. Ein Polizist tötet einen Verbrecher nicht, er entlarvt ihn und übergibt ihn der Justiz.«
»Sehr gut gesagt. Aber wie wollen Sie das anstellen?«
»Das weiß ich nicht. Und das ist der dritte Grund, warum ich ausgerechnet zu Ihnen gekommen bin. Wir Japaner sind berechenbar, wir handeln stets nach bestimmten Regeln. Darin liegt unsere Stärke und zugleich unsere Schwäche. Ich bin von Geburt an Yoriki, also in doppelter Hinsicht Japaner. Mein Vater hat mich von klein auf gelehrt: ›Handle immer nach dem Gesetz, alles andere ist nicht deine Sache.‹ Daran habe ich mich bisher stets gehalten, dagegen kann ich nicht an. Sie aber sind anders – das zeigt die Geschichte mit der Flucht des Buckligen. Ihr Verstand ist nicht durch Regeln eingeengt.«
Das kann man kaum als Kompliment betrachten, dachte Fandorin, besonders aus dem Munde eines Japaners. Aber in einem hatte der Inspektor zweifellos recht: Man durfte sich nicht zum
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