Diamantene Kutsche
Fandorin zur nächsten Phase seiner Überlegungen über: Wie überführte man einen derartigflexiblen und gewitzten Herrn, dem obendrein faktisch die gesamte japanische Polizei unterstand?
Die durchtrennte Schlaufe am Knebel war nur für Asagawa und Fandorin ein Beweis. Doch was wog ihre Aussage gegen die Worte von General Suga?
Die aus der Akte verschwundenen Berichte? Taugten ebenfalls nicht. Vielleicht hatten sie nie darin gelegen. Und wenn doch – womöglich gab es eine Spur in einem Eingangsbuch –, es konnte sie sonstwer herausgenommen haben.
Fandorin saß bis Mitternacht in seinem Sessel, starrte auf das rotglühende Ende seiner Zigarre und grübelte. Um Mitternacht betrat sein Diener den noch immer dunklen Salon und brachte ihm einen Brief, der mit der städtischen Expreßpost gekommen war.
Darin stand in großen Buchstaben auf Englisch: »Grand Hotel, Number 16. Now!«
Offenbar hatte auch Asagawa keine Zeit verloren. War ihm etwas eingefallen? Oder hatte er etwas erfahren?
Fandorin wollte unverzüglich zum angegebenen Ort aufbrechen, stieß aber auf unvorhergesehene Schwierigkeiten in Gestalt von Masa.
Der Japaner wollte seinen Herrn auf keinen Fall mitten in der Nacht allein aus dem Haus gehen lassen.
Er stülpte sich seine alberne Melone auf, schob sich einen Schirm unter den Arm, und sein störrisch vorgerecktes Kinn verriet, daß er sich nicht abwimmeln lassen würde.
Ihm ohne Sprache etwas zu erklären war schwierig, außerdem war dazu keine Zeit – im Brief stand ausdrücklich: »Now!« Doch diese Vogelscheuche mit ins Hotel zu nehmen war ebenfalls ausgeschlossen. Fandorin wollte sich dort unbemerkt einschleichen, und Masa lärmte mit seinen Holzpantinen wie eine ganze Eskadron.
Fandorin mußte zu einer List greifen.
Er tat, als habe er es sich anders überlegt, legte Mantel undZylinder ab, ging zurück ins Zimmer und wusch sich sogar, als wollte er sich schlafen legen.
Als Masa sich mit einer Verbeugung verabschiedet hatte, kletterte Fandorin aufs Fensterbrett und sprang in den Garten. Im Dunkeln prellte er sich heftig das Knie und fluchte. Verdammt – vor seinem eigenen Diener fliehen zu müssen!
Bis zum Grand Hotel war es ein Katzensprung.
Fandorin lief die menschenleere Uferstraße hinunter und blickte vorsichtig ins Hotelfoyer.
Er hatte Glück – der Portier schlummerte hinterm Tresen.
Ein paar lautlose Schritte, und der nächtliche Gast war auf der Treppe.
Er eilte hinauf in den ersten Stock.
Aha, da war Zimmer sechzehn. In der Tür steckte ein Schlüssel – sehr umsichtig, so mußte er nicht klopfen, was zu dieser nächtlichen Stunde womöglich die Aufmerksamkeit eines schlaflosen Gastes erregt hätte.
Fandorin öffnete die Tür einen Spalt und schlüpfte ins Zimmer.
Vor dem grauen Fenster zeichnete sich eine Silhouette ab – allerdings nicht die von Asagawa; sie war wesentlich schlanker.
Eine katzenhaft geschmeidige Gestalt stürzte dem Eintretenden entgegen. Lange Finger umfaßten das Gesicht des verblüfften Vizekonsuls.
»Ich halte es nicht aus ohne dich!« flötete eine unvergeßliche heisere Stimme.
Wundervoller Irisduft kitzelte Fandorins Nase.
Trübe Gedanken,
Wehmut im Herzen, und dann
Plötzlich Irisduft.
Der Ruf der Liebe
»Nicht nachgeben, nicht nachgeben!« signalisierte der Verstand verzweifelt dem außer Rand und Band geratenen Herzen. Aber die Arme umschlossen wie von selbst den elastischen Körper der Frau, die die Seele des armen Vizekonsuls so gequält hatte.
O-Yumi riß an seinem Kragen – die Knöpfe flogen zu Boden. Atemlos vor Leidenschaft bedeckte sie Fandorins Hals mit hastigen Küssen und zerrte ihm ungeduldig den Gehrock von den Schultern.
Da geschah, was man einen wahren Sieg des Verstandes über die zügellose Elementargewalt der Gefühle nennen könnte.
Fandorin nahm seine ganze Willenskraft zusammen (und die war nicht gering), packte O-Yumi bei den Handgelenken und schob sie von sich – sanft, aber unerbittlich.
Dafür gab es zwei Gründe, und beide waren gewichtig.
Den ersten formulierte Fandorin auf die Schnelle so: Wofür hält sie mich, für einen Grünschnabel? Sie verschwindet, wann sie will, und wenn sie pfeift, bin ich wieder zur Stelle? Ein etwas vages, aber wichtiges Argument. In jenem Kampf zweier Welten, den man »Liebe« nennt, ist immer einer der Herrscher und einer der Untertan, einer der Sieger und einer der Besiegte. Um diese Schlüsselfrage ging es im Moment. Untertan und Besiegter konnte und wollte
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