Diamantene Kutsche
Fandorin nicht sein.
Der zweite Grund hatte nichts mit Liebe zu tun. Die Sache roch nach Mystik, und zwar solcher von äußerst beunruhigender Art.
»Woher wußten Sie, daß Asagawa und ich verabredet haben, uns schriftlich zu verständigen?« fragte Fandorin streng und versuchte, im Dunkeln ihren Gesichtsausdruck zu erkennen. »Wie haben Sie das so schnell erfahren? Wurden wir beobachtet? Belauscht? Welche Rolle spielen Sie in dieser Geschichte?«
Sie sah ihn schweigend von unten herauf an, ohne sich zu rühren,ohne einen Versuch, sich zu befreien, doch Fandorins Finger brannten von der Berührung ihrer Haut. Plötzlich kam ihm eine Definition aus dem Physiklehrbuch in den Sinn: »Die einem Körper innewohnende Elektrizität verleiht diesem die besondere Fähigkeit, einen anderen Körper anzuziehen.«
Fandorin schüttelte unwillig den Kopf und sagte bestimmt: »Einmal sind Sie mir entwischt, ohne mir etwas zu erklären. Heute werden Sie meine Fragen beantworten müssen. Also, r-reden Sie!«
Und O-Yumi antwortete.
»Wer ist Asagawa?« fragte sie und riß ihre Handgelenke los – die elektrische Verbindung brach ab. »Sie dachten, den Brief hätte Ihnen jemand anders geschickt? Und sind sofort gekommen? Ich habe diese beiden langen Tage nur an ihn gedacht, und er … Was bin ich doch für eine Närrin!«
Er wollte sie halten, vermochte es aber nicht. Sie duckte sich, glitt unter seinem Arm hindurch und hinaus in den Flur. Direkt vor Fandorins Nase schlug die Tür zu. Er griff nach der Klinke, doch O-Yumi drehte bereits den Schlüssel im Schloß.
»Warten Sie!« rief Fandorin entsetzt. »Gehen Sie nicht weg!«
Sie einholen, festhalten, sich rechtfertigen!
Aber nein – er vernahm im Flur unterdrücktes Schluchzen, dann das Geräusch leichter, sich entfernender Schritte.
Sein Verstand schrumpfte zusammen, verkroch sich in die äußerste Ecke des Bewußtseins. Nun beherrschten Fandorin nur noch Gefühle: Leidenschaft, Entsetzen, Verzweiflung. Am heftigsten aber war das Gefühl eines unwiderruflichen Verlusts. Und was für ein Verlust! Als habe er alles auf der Welt verloren, und daran war niemand schuld als er selbst.
»Verdammt! Verdammt! Verdammt!« Der Unglückliche knirschte mit den Zähnen und hieb mit voller Wucht die Faust gegen den Türrahmen.
Verfluchte Polizeigewohnheit! Eine mutige Frau, die auf ihr Herz hörte – die kostbarste Frau der Welt – warf sich ihm rückhaltlos in die Arme, wobei sie bestimmt allerhand riskierte, womöglich ihr ganzes Leben auf eine Karte setzte. Und er unterzog sie einem peinlichen Verhör: »Wurden wir beobachtet? Belauscht? Welche Rolle spielen Sie?«
Mein Gott, was für eine Schande, entsetzlich!
Ein Seufzer drang aus Fandorins Brust. Taumelnd lief er zum Bett (in dem er überirdische Genüsse hätte erleben können!) und sank mit dem Gesicht ins Kissen.
So lag er geraume Zeit, am ganzen Körper bebend. Er hätte gern geweint, doch die Fähigkeit zu dieser Form emotionaler Entladung hatte er ein für allemal eingebüßt.
Lange, sehr lange hatte er keine derartige Erschütterung erlebt – deren Ausmaß eigentlich das Erlebte übertraf. Als sei die Seele, lange Zeit von einem Eispanzer umschlossen, plötzlich zum Leben erwacht und leide nun, auftauend, blutige Schmerzen.
»Was ist mit mir? Was geschieht mit mir?« wiederholte er anfangs immer wieder, dachte dabei jedoch nicht an sich, sondern an sie.
Allmählich erwachte das erstarrte Gehirn wieder und formulierte eine andere, wesentlichere Frage: »Was nun?«
Ruckartig setzte Fandorin sich auf. Das Zittern war vorbei, das Herz schlug rasch, aber gleichmäßig.
Was? Sie suchen! Unverzüglich. Dann komme, was da wolle.
Sonst drohte ihm Hirnfieber, ein Herzkollaps, der Tod seiner Seele.
Der Vizekonsul stürzte zur abgesperrten Tür, tastete sie hastig ab und lehnte sich mit der Schulter dagegen.
Die Tür war stabil, sie einzuschlagen jedoch nicht unmöglich. Aber das würde gewaltigen Lärm machen und das Hotelpersonalherbeirufen. Er stellte sich die fette Schlagzeile in der morgigen »Japan Gazette« vor: »RUSSIAN VICE-CONSUL ON THE RAMPAGE IN GRAND HOTEL«. 1
Fandorin blickte aus dem Fenster. Der erste Stock lag ziemlich hoch, und wo man bei einem Sprung landen würde, war im Dunkel nicht zu erkennen. Womöglich in einem Steinhaufen oder in einer vom Gärtner vergessenen Harke?
Doch diese Befürchtungen hielten den kopflosen Fandorin nicht auf. Mit dem Gedanken, daß es ihm heute offenbar beschieden
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