Diamantene Kutsche
mehrere Generationen dauern.«
»Nein, ich denke, die Amerikaner werden die ganze Welt beherrschen«, sagte Fandorin. »Und zwar spätestens in hundert Jahren. Worin liegt die Stärke der Amerikaner? Darin, daß sie jeden aufnehmen. Jeder, der es w-will, wird sofort Amerikaner, egal, ob er zuvor Ire, Jude oder Russe war. Die Vereinigten Staaten der Erde, das wird kommen, Sie werden sehen.«
»Wohl kaum. Die Amerikaner handeln natürlich klüger als die europäischen Monarchien, aber ihnen fehlt es an Geduld. Auch sie sind westlich verwurzelt, und im Westen messen die Menschen der Zeit zuviel Bedeutung zu. In Wirklichkeit aber existiert keine Zeit, es gibt kein ›Morgen‹, nur ein ewiges ›Jetzt‹. Die Vereinigung der Welt ist eine langsame Angelegenheit, aber wozu sich auch beeilen? Nein, es wird keine Vereinigten Staaten der Erde geben, sondern ein einziges Himmlisches Reich, und dann wird allgemeine Harmonie herrschen. Gott sei Dank werden wir beide dieses Paradies auf Erden nicht mehr erleben.«
Mit diesem melancholischen Ausblick endete das Gespräch über die Zukunft der Menschheit – die Kutsche hielt vor dem Bahnhof.
Am nächsten Morgen ging Vizekonsul Fandorin an eine Routinearbeit: Eine Liste der russischen Schiffe, die im Juni und Juli 1878 im Hafen Yokohama eintreffen sollten.
Lustlos hatte Fandorin gerade die Überschrift des langweiligen Dokuments geschrieben (Mademoiselle Blagolepowa würde es später ohnehin abtippen), doch weiter kam er nicht. Vom Fenster seines Büros im ersten Stock hatte er einen wundervollen Blick aufden Garten des Konsulats, auf den belebten Bund und die Reede. Er war in übler Stimmung, seine Gedanken irrten umher. Fandorin stützte die Wange auf die Faust und betrachtete die Passanten und Kutschen auf der Uferstraße.
Zu seinem eigenen Schaden.
Gerade rollte die Lackkutsche von Aldgernon Bullcocks am Tor vorbei in Richtung Bluff. Auf dem Ledersitz saßen wie zwei Turteltäubchen der heimtückische Feind Rußlands und seine Konkubine. O-Yumi hatte den Engländer untergehakt und flüsterte ihm etwas ins Ohr, und der Ehrenwerte lächelte ölig.
Das russische Konsulat würdigte die sittenlose Kokotte keines Blickes.
Trotz der Entfernung sah Fandorin mit scharfem Blick, wie sich eine Haarsträhne hinter ihrem Ohr bewegte, und dann wehte der Wind auch noch den Duft blühender Iris heran.
In seiner starken Hand knackte ein Bleistift, den er zerbrochen hatte.
Was flüsterte sie ihm zu, und warum lachten sie? Und über wen? Womöglich über ihn?
Das Leben ist grausam, sinnlos und im Grunde unendlich demütigend, dachte Fandorin düster und blickte auf das noch immer fast leere Blatt Papier. Alle seine Farben, Genüsse und Verführungen existieren nur, damit der Mensch weich wird, sich auf den Rücken legt, vertrauensvoll mit allen vieren strampelt und dem Leben seinen schutzlosen Bauch bietet. Und dann schlägt es zu, und zwar so, daß man mit eingekniffenem Schwanz jaulend davonrennt.
Was folgte daraus?
Dies: Nicht weich werden, immer auf der Hut sein und gewappnet. Wenn das Schicksal dir lockend mit dem Finger winkt, beiß ihn ab, wenn’s geht, gleich mitsamt der Hand.
Mit einiger Willensanstrengung konzentrierte sich Fandorin auf Tonnagen, Routen und Kapitänsnamen.
Die leeren Spalten füllten sich allmählich. An der Wand tickte laut die Big-Ben-Standuhr.
Um sechs Uhr abends, nach Dienstschluß, ging Fandorin müde und verdrossen hinunter in seine Wohnung, um das von Masa zubereitete Abendessen zu verzehren.
Das alles hat es nicht gegeben, sagte sich Fandorin, während er voller Abscheu den klebrigen, an den Zähnen haftenden Reis kaute. Weder die straffe Schlinge in der Hand, noch das heiße Pulsieren des Blutes, noch den Irisduft. Besonders den Irisduft. Alles Trug und wirres Zeug, das hat nichts mit dem wirklichen Leben zu tun. Das besteht aus klarer, simpler und notwendiger Arbeit. Aus Frühstück, Mittag und Abendessen. Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Regeln, Routine, Reglement – und keinerlei Chaos. Das Chaos ist vorbei, es kommt nicht wieder. Gott sei Dank!
Da vernahm er hinter sich Türknarren und ein verlegenes Hüsteln. Noch bevor er sich umgedreht hatte, noch bevor er wußte, wer da war, ahnte Fandorin: Das ist das Chaos, es ist wieder da.
Das Chaos hatte die Gestalt von Inspektor Asagawa. Der stand an der Tür, den Hut in der Hand, das Gesicht starr und voller Entschlossenheit.
»Guten Tag, Inspektor. Ist etwas …«
Plötzlich warf
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