Diamantene Kutsche
sei, aus Fenstern zu klettern und in die Nacht zu springen, hängte er sich ans Fensterbrett und löste die Finger.
Er landete glücklich – auf Rasen, klopfte sich den Schmutz von den Knien und schaute sich um.
Der Garten lag im Innenhof des Hotels und war ringsum von einem hohen Zaun umfriedet. Doch eine solche Bagatelle focht Fandorin nicht an. Er nahm Anlauf, krallte sich am oberen Zaunrand fest, zog sich hoch und setzte sich auf.
Er wollte in die Gasse hinunterspringen, konnte aber nicht – sein Gehrock hing an einem Nagel fest. Er ruckte mehrmals heftig – vergebens: Solides Pariser Tuch. »RUSSIAN VICE-CONSUL STUCK ON TOP OF FENCE« 2 , murmelte Fandorin, ruckte noch heftiger, und der Gehrock riß ratschend.
Voilá!
Ein Dutzend Schritte, und Fandorin befand sich auf dem menschenleeren, aber erleuchteten Bund.
Er mußte zu Hause vorbeischauen.
Die Adresse von Bullcocks herausfinden – erstens. Und sich ein Fortbewegungsmittel beschaffen – zweitens. Zu Fuß war es zu weit, und einen Kuruma konnte er nicht nehmen, selbst wenn erauf seine Prinzipien verzichtete – in einer solchen Angelegenheit waren Zeugen überflüssig.
Das Haupthindernis namens Masa stellte sich ihm Gott sei Dank nicht in den Weg: Das Fenster der Kammer, in welcher der anhängliche Kammerdiener schlief, war dunkel. Er schlief, der alte Plagegeist.
Fandorin schlich auf Zehenspitzen in die Diele und lauschte.
Nein, Masa schlief nicht. Aus seinem Zimmer drangen sonderbare Laute – Schluchzen oder unterdrücktes Stöhnen.
Besorgt schlich sich Fandorin zur Kammertür, einer üblichen japanischen Schiebetür. Masa hielt nichts vom europäischen Komfort und hatte sich seine Behausung nach seinem eigenen Geschmack eingerichtet: den Boden mit Reisstrohmatten ausgelegt, Bett und Nachtschränkchen entfernt und bunte Bildchen mit wilden Räubern und elefantenartigen Sumo-Ringern an die Wände gehängt.
Die Laute, die durch die spaltbreit offene Tür drangen, erwiesen sich bei genauerem Hinhören als vollkommen eindeutig; zudem standen in der Diele zwei Paar Sandalen: ein größeres und ein kleineres.
Da wurde Fandorin noch bitterer zumute. Er seufzte schwer, tröstete sich aber mit den Worten: Soll er doch. Dafür läßt er mich in Ruhe.
Auf dem Tisch im Salon lag eine nützliche Broschüre mit dem Titel »Alphabetical List of Yokohama Residents for the Year 1878«. Beim Licht eines Streichholzes fand Fandorin im Nu die Adresse des »ehrenwerten A. F. S. Bullcocks, Berater der kaiserlichen Regierung«: Bluff 129. Das Büchlein enthielt auch einen Plan des Settlements. Die gesuchte Hausnummer lag ganz am Rand des eleganten Viertels, unterhalb des Hara-Hügels. Fandorin zündete ein weiteres Streichholz an und zog mit einem Bleistift eine Linie vom Konsulat bis zum Ziel. Flüsternd prägte er sich den Weg ein: »Über dieYatobashi-Brücke, am Zoll vorbei, dann nach rechts in die Yatozaka-Straße, das Hata-cho-Viertel passieren, dann die zweite links …«
Er setzte den breitkrempigen Hut auf, den er auf der langen Überfahrt bei seinen abendlichen Promenaden an Deck getragen hatte, und zog einen schwarzen Mantel an.
Dann trug er vorsichtig sein Fortbewegungsmittel – das Dreirad – hinaus, blieb aber im letzten Augenblick mit dem großen Rad am Griff der Türglocke hängen. Es läutete verräterisch, aber nun war Fandorin nicht mehr aufzuhalten.
Er zog sich den Hut tief in die Stirn, nahm Anlauf, sprang in den Sattel und trat eifrig in die Pedale.
Am Himmel strahlte der Mond – rund und ölig glänzend wie das Gesicht des in der Liebe so erfolgreichen Masa.
Auf der Uferstraße begegneten dem Vizekonsul nur zwei lebende Seelen: ein französischer Matrose Arm in Arm mit einem japanischen leichten Mädchen. Der Matrose sperrte den Mund auf und schob sich die Bommelmütze in den Nacken, die Japanerin kreischte laut auf.
Kein Wunder: Aus dem Dunkel kam eine schwarze Gestalt im wehenden Mantel geschossen, glitt auf Kautschukreifen vorbei und verschwand augenblicklich in der Dunkelheit.
Der nächtliche Bluff mit seinen gotischen Glockentürmen, soliden Villen und akkurat geharkten Rasen erschien Fandorin wie eine unwirkliche, verzauberte Stadt, von einem launischen Zauberer dem alten Europa geraubt und ans Ende der Welt geschleudert.
Hier gab es keine Matrosen und keine Frauen mit verwerflichen Sitten, alles schlief, nur ein friedliches Glockenspiel tönte von einem Turm.
Fandorin drang empörend taktlos in dieses
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