Diamantene Kutsche
Anblick der rhythmisch die Ellbogen schwingenden Gestalt nur grüßend den Hut. Fandorin nickte und lief weiter, ganz konzentriert auf das Zählen beim Ausatmen. Das Laufen fiel ihm heute schwerer als sonst, sein unregelmäßiger Atem wollte sich partout nicht beruhigen. Mit störrisch zusammengebissenen Zähnen erhöhte er das Tempo.
Acht, neun, dreihundertzwanzig; eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, dreihundertdreißig; eins, zwei, drei, vier …
Auf dem Kricketplatz wurde ungeachtet der frühen Stundebereits gespielt: Die Mannschaft des Athletikclubs trainierte für die Meisterschaften um den Japan-Pokal. Die Sportler warfen den Ball der Reihe nach ins Wicket und rannten dann auf die gegenüberliegende Seite.
Fandorin schaffte es nicht, den Platz zu umrunden. Auf der Hälfte der ersten Runde rief ihn jemand an.
Im dichten Gebüsch stand Inspektor Asagawa – blaß, eingefallen, mit fiebrig glänzenden Augen, genau wie Fandorin.
Der Vizekonsul blickte sich um, ob jemand hersah.
Offenbar nicht. Die Spieler konzentrierten sich auf ihr Training, und sonst war niemand im Park. Fandorin schlüpfte ins Akaziendickicht.
»Nun, was ist?« überfiel ihn der Inspektor ohne jedes »Guten Tag« und »Wie geht es«. »Ich warte seit genau einer Woche. Ich kann nicht mehr. Sie wissen, daß Suga gestern zum Polizei-Intendanten ernannt wurde? Sein Vorgänger wurde seines Postens enthoben, weil er den Minister nicht zu schützen vermochte. Ich brenne innerlich. Ich kann nicht essen und nicht schlafen. Ist Ihnen etwas eingefallen?«
Fandorin schämte sich. Auch er konnte nicht essen und nicht schlafen, aber aus einem ganz anderen Grund. An Asagawa hatte er in den vergangenen Tagen kein einziges Mal gedacht.
»Nein, m-mir ist nichts eingefallen.«
Die Schultern des Japaners sackten zusammen, als habe er nun jegliche Hoffnung verloren.
»Ja, natürlich«, sagte der Inspektor düster. »Nach Ihrer europäischen Auffassung ist da nichts zu machen. Keine Indizien, keine Beweise, keine Zeugen.« Er wurde noch blasser und schüttelte entschieden den Kopf. »Na schön. Wenn es europäisch nicht geht, werde ich japanisch handeln.«
»Das heißt?«
»Ich werde einen Brief an Seine Majestät den Kaiser schreiben.Ihm alle meine Verdachtsmomente gegen Suga darlegen. Und mich dann töten, zum Beweis meiner Aufrichtigkeit.«
»Sich selbst? Nicht Suga?« rief Fandorin erschüttert.
»Wenn ich Suga tötete, würde ich den Verbrecher nicht bestrafen, sondern ein neues Verbrechen begehen. Bei uns gibt es eine uralte, ehrenhafte Tradition. Willst du die Aufmerksamkeit der Mächtigen und der Gesellschaft auf eine Untat lenken, dann verübe Seppuku 1 . Ein Lügner wird sich nicht den Bauch aufschlitzen.« Asagawas Augen waren entzündet und wehmütig. »Aber wenn Sie wüßten, Fandorin-san, wie schrecklich es ist, Seppuku zu verüben ohne einen Sekundanten, ohne jemanden, der mit einem barmherzigen Schwerthieb deine Leiden beendet! O weh, ich habe niemanden, den ich darum bitten könnte, meine Kollegen würden das auf keinen Fall tun. Ich bin ganz allein.« Plötzlich richtete er sich auf und packte den Vizekonsul am Arm. »Aber vielleicht Sie? Nur ein einziger Hieb! Ich habe einen langen Hals, der ist leicht zu treffen!«
Fandorin wich entsetzt zurück.
»G-gott behüte Sie! Ich habe noch nie ein Schwert in der Hand gehabt!«
»Nur ein einziger Hieb! Ich bringe es Ihnen bei. Eine Stunde Übung an einem Bambusstab, und Sie können es! Ich bitte Sie! Sie würden mir einen unschätzbaren Dienst erweisen!«
Die Miene seines Gegenübers ließ den Inspektor verstummen. Mühsam nahm er sich zusammen.
»Na schön«, sagte er dumpf. »Verzeihen Sie, daß ich Sie darum bat. Das war eine Schwäche. Ich schäme mich sehr.«
Doch Fandorin schämte sich weit mehr. Es gab auf der Welt so viele Dinge, die wichtiger waren als verletzter Stolz, Eifersucht und unglückliche Liebe! Zum Beispiel das Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Moralische Reinheit. Selbstaufopferung im Namen der Gerechtigkeit.
»Hören Sie«, begann er erregt und preßte die schlaffe Hand des Japaners. »Sie sind ein kluger, moderner, gebildeter Mann. Was ist das für eine Barbarei – sich den Bauch aufzuschlitzen! Das ist doch Mittelalter! W-wahrhaftig, wir leben Ende des neunzehnten Jahrhunderts! Ich schwöre Ihnen, uns wird etwas einfallen!«
Aber Asagawa hörte ihm nicht zu.
»Ich kann so nicht leben. Sie als Europäer können das nicht
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