Diamantene Kutsche
nicht früher auf diese Lösung gekommen war.
Vom Knebel befreit, spuckte der General aus und blaffte Asagawa heiser an: »Und du, bist du selber keine Figur in den Händen eines Ausländers?« Dann besann er sich, daß er ganz und gar vondem Inspektor abhängig war, und änderte seinen Ton. »Ich habe Wort gehalten. Nun sind Sie dran. Geben Sie mir ein Schwert.«
»Ich habe kein Schwert.« Asagawa verzog das Gesicht. »Und selbst wenn ich eins hätte, würde ich es dir nicht geben. Damit du mit deinem schmutzigen Blut den edlen Stahl besudelst? Erinnerst du dich, wie du den Buckligen gezwungen hast, sich die Zunge abzubeißen? Nun bist du dran. Du hast scharfe Zähne, also los – wenn du den Mut hast. Ich schaue dir mit Vergnügen zu.«
Die Augen des Intendanten verengten sich vor Haß und sprühten Funken.
Der Vizekonsul biß sich vorsichtig auf die Zungenspitze und zuckte zusammen. Asagawa war grausam, das stand fest. Er stellte Sugas Charakter auf die Probe. Zeigte der sich feige, verlor er das Gesicht. Dann war aus ihm noch einiges rauszuholen.
Alle drei schwiegen. Dann ertönte ein seltsamer, gedämpfter Laut – Suga schluckte.
Niemand achtete auf die Geheimtür, darum zuckten die drei Männer zusammen, als diese plötzlich zuschlug. Waren tatsächlich nur zwanzig Minuten vergangen, seit der Intendant den Hebel gedrückt hatte?
»Du willst also deine Zunge nicht fressen«, stellte der Inspektor mit Genugtuung fest. »Dann habe ich einen neuen Vorschlag. Sieh her.« Er zog einen Revolver aus der Tasche des Generals (Fandorins Vermutung erwies sich als richtig, es war ein Kavallerie-Hagström) und entfernte alle Kugeln aus der Trommel bis auf eine. »Du erzählst mir, für wen die übrigen Kreise stehen, dann mußt du dir nicht die Zunge abbeißen.«
Der Blick, mit dem Suga den Revolver ansah, läßt sich nicht beschreiben. Kein Romeo hat seine Julia derartig begehrlich mit den Augen verschlungen, kein Schiffbrüchiger so gierig einen Punkt am Horizont fixiert. Fandorin war überzeugt, daß der General der Versuchung nicht widerstehen würde. Und irrte.
Der Intendant zog es vor, sich die Zunge abzubeißen.
Beim letzten Mal hatte Fandorin das grausige Schauspiel zum Glück aus einiger Entfernung beobachtet, diesmal aber war er nur zwei Schritt entfernt.
Suga gab ein weniger menschliches denn tierisches Brüllen von sich, riß den Mund weit auf, streckte seine fleischige rote Zunge heraus und preßte die Kiefer aufeinander. Es gab ein widerliches Knirschen, Fandorin wandte sich ab, hatte jedoch genug gesehen, um dieses Bild sein Leben lang nicht wieder loszuwerden.
Der Intendant brauchte zum Sterben länger als der Bucklige. Jener hatte, wie Fandorin mutmaßte, den Schmerzschock nicht überlebt. Suga aber besaß ein starkes Herz; er erstickte an seinem Blut. Erst schluckte er es krampfhaft, dann lief es ihm in Strömen über Kinn und Brust. Das dauerte einige Minuten. In der ganzen Zeit gab der eiserne Mann kein einziges Stöhnen von sich.
Als das Röcheln verstummt war und der Selbstmörder schlaff in seinen Fesseln hing, schnitt Asagawa die Seile durch. Der Leichnam glitt zu Boden, auf dem Parkett breitete sich eine dunkle Pfütze aus.
Der Inspektor äußerte einen verhalten respektvollen Nachruf: »Ein starker Mann. Ein echter Akunin. Doch der oberste Akunin in dieser Geschichte ist kein Japaner, sondern ein Ausländer. Was für eine Schande!«
Fandorin war übel. Er wollte diesen verfluchten Ort so schnell wie möglich verlassen, aber sie verbrachten noch eine ganze Weile dort.
Zuerst vernichteten sie die Spuren ihrer Anwesenheit: sammelten die zerschnittenen Seile ein, hängten das Bild des Mikado und das Kruzifix wieder ordentlich hin, entfernten die Kugel, die Fandorin aus seiner Herstal abgefeuert hatte.
Aus europäischer Sicht wirkte das Ganze vollkommen absurd: Der Chef der kaiserlichen Polizei war mitten in der Nacht in seinBüro gekommen, hatte sich in seinen Sessel gesetzt, sich die Zunge abgebissen und war gestorben. Fandorin hoffte nur, daß dies auf Japanisch weniger sonderbar aussah.
Anschließend zerrissen sie auf Asagawas Drängen eine geschlagene Stunde lang sämtliche Dossiers. Erst dann verschwanden sie endlich – ebenso, wie sie gekommen waren, durch das Toilettenfenster.
Vom gesamten Archiv ließen sie nur die Mappe »Okubo« unberührt. Sie enthielt die Seite mit dem verschlüsselten Schema, die unterschlagenen Berichte und die drei blutbeschriebenen Blätter mit
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